#MINDSET2030

Stefan Baumann
Managing Partner STURMundDRANG
02.09.2021 | Lesezeit: 7 Minuten

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Changing Cultures Brief

Making Meaning

Während unsere Welt bis an die Belastungsgrenze damit beschäftigt ist, den erklärten Krieg gegen das neue Virus zu gewinnen und die Mittel und Wege dazu in Echtzeit in einem großen Sozialexperiment ausprobiert, fragen sich immer mehr: Was wird das alles mit unser Gesellschaft machen und unserem zukünftigen Sozial- und Wirtschaftsleben? Ist das jetzt womöglich die Zeit, in der ein neues gesellschaftliches Bewusstsein endgültig durchbricht, das sich schon in der Klimakrise andeutete? Gehen wir von einer Ego- in eine Ecosystem-Logik wie MIT Professor Otto Scharmer annimmt? Hier unsere Kuration von ausgesuchten Vordenkern mit Richtungsangaben wie das Virus unsere Gesellschaftstransformation beschleunigt.

#1 Inklusion 4.0 – Das Gefühl für das Gemeinsame

Gemeinsame Risikoerfahrung mobilisiert Solidarität und Fortschrittwille, sagt der Berliner Soziologieprofessor Steffen Mau. In Krisen wird die Beziehung zur Welt neu austariert. COVID-19 ist neben der gesundheitlichen vor allem eine „soziale“ Vertrauens-Krise, die unser Verhältnis untereinander herausfordert und neu definiert. Steffen Mau spricht von einem „gesellschaftlichen Erfahrungsschock, der uns vor Augen führt, wie verwundbar und zugleich abhängig wir voneinander sind.“ In einer auf Selbstbestimmung und Freiheit gepolten Gesellschaft kann eine solche Erfahrung der sozialen Verbundenheit und das Erkennen der wechselseitigen Angewiesenheit wesentliche Wandlungsprozesse produzieren. Rückt die globalisierte Weltgesellschaft im Zeichen der Pandemieerfahrung zusammen und schafft sich ein gesellschaftliches System des „Aufeinander-Angewiesen-und-Aufeinander-Verlassen-Könnens“? Damit einher ginge laut Mau auch veränderte Wahrnehmung auf die „Daseinsvorsorge des Staates“ (und natürlich auch der „Unternehmen“) und seiner gesellschaftlichen Rolle gegenüber immer dominanter werdenden neoliberalen Gedanken des letzten Jahrzehnts. Fortschrittswille und soziale Innovationen für die so erweckte „inklusive Gesellschaft“ sind historisch nachweisbar und könnten auch die derzeitige Post-Pandemiezeit ausmachen. Gemeinsam dran wachsen.

Corona-Krise: Eine neue Art der Nähe, von Steffen Mau

#2 Finding Meaning – Das Licht am Ende des Tunnels

Das ungute, ängstliche Grundgefühl, das uns seit Wochen begleitet, ist laut dem Trauer-Experten David Kessler „anticipatory grief“. Diese Krise ist nicht zuletzt auch eine Krise des Selbst und der Verlust der eigenen sicheren und selbstverständlichen Lebensweise. Darüber trauern wir auf einer individuellen wie auch gesellschaftlichen Ebene. Bilder tauchen in uns auf, die das Schlimmste ausmalen. Viele Emotionen machen sich jetzt in uns breit und sind teilweise schwer zu benennen. Sorge, ja Panik, auf unterschiedlichsten Ebenen, Wut auf die Situation und manchmal auch auf andere, dann erste Zeichen von Dankbarkeit und demütige Akzeptanz. All das sind Gefühlswellen, die der Trauerexperte David Kessler (www.grief.com) in den fünf Phasen der Trauerarbeit beschreibt. Das sinnvolle Gefühlsmanagement besteht für ihn zunächst vor allem darin, in die gegenwärtige Präsenz zu kommen und dort in den Moment zu spüren, der erstmal nichts Bedrohliches hat. Und von dort aus an Vorstellungsbildern zu arbeiten, die das Denken in eine positivere Balance bringt. Durch Aufmerksamkeit und Akzeptanz wandern die Emotionen „geordneter“ durch uns durch und befreien uns aus der „Opferrolle“. Jetzt hat Kessler eine sechste Phase hinzugefügt, die nicht nur für die individuelle, sondern auch die kollektive Trauerarbeit essentiell ist: Finding New Meaning. Nach dem notwendigen Loslassen und Akzeptieren braucht es ein neues Sinnsystem unseres zukünftigen Lebens. Für eine neue soziale Wirklichkeit und den sich abzeichnenden Bewusstseinswandel verlangt es nach einer neuen „Daseins-Ideologie“ und Kräften, die größer sind als wir selbst. Dieses „Warum“ auf der gesellschaftlichen Ebene auszuformulieren wird unser aller visionäre Aufgabe.

Emotional Intelligence: That Discomfort You’re Feeling Is Grief, von Scott Berinato

#3 Gesellschaft 4.0 - Veränderung des Normal-Zustandes

Die Welt erlebt zurzeit eine Bifurkation – eine fundamentale Strukturveränderung des Gesellschaftssystems. Die soziale Evolution ist im vollen Gange und wir wenden uns ihr besser zu als von ihr ab, rät der MIT Professor Otto Scharmer. Kann man Zukunft als Evolutionsprozess des menschlichen Bewusstseinswandels begreifen? Folgt die Form dem Bewusstsein? Passiert Gesellschaftswandel durch eine kollektive Verhaltensänderung und einen parallelen mentalen Wandel, der aus einer Krise mit dem Bestehenden sozialen System entsteigt? „Zukunft entsteht, wenn wir uns in der Reaktion auf den Wandel der Welt uns selbst verändern.“ Davon ist auch der Zukunftsforscher Matthias Horx überzeugt. Eine neue soziale Wirklichkeit wartet also darauf, von weiter entwickelt zu werden und diese Krise ist der Beschleuniger der sozialen Evolution, die ohnehin schon mehr als unterwegs war. Die Covid-Krise heizt unsere gesellschaftlichen Grundkonflikte weiter an. Scharmer spricht von drei Abgründen, die in unserem bestehenden System rumoren: 1. Der Ökologische Abgrund: Der Verlust unser Naturbeziehung. 2. Der Soziale Abgrund: Der Verlust unseres Gemeinsinns und 3. Der Spirituelle Abgrund: Der Verlust unseres Sinns. Die momentane erzwungene „soziale Fastenzeit“ zwingt uns jetzt mehr als sonst zum Innehalten und aufmerksamen Draufschauen auf das eigene System. Und das ist nach Scharmer der elementare Anfang der kulturellen Erneuerung: „Das Virus hält uns einen Spiegel vor. Es zwingt uns, unseres eigenen Verhaltens und seiner Auswirkungen auf das Kollektiv, auf das System, bewusst zu werden“. Mit der systemischen Erkundung steht das Loslassen und auf der anderen Seite das Erkennen und Erproben der neuen Form. „Geführt“ wird dieser Evolutionsprozess durch ein kollektives Narrativ der Transformation, Bildern und Geschichten aus einer wünschenswerten Zukunft, die uns zieht. „Jede Tiefenkrise hinterlässt eine Story, ein Narrativ, das weit in die Zukunft weist“, weiß auch Horx und verweist auf die anderen Bilder der Coronakrise: musizierende Italiener auf ihren Balkonen und die Umwelt, die aufatmet und sich langsam wieder erholt. Eins scheint schon jetzt sicher: Die Welt wird nie mehr so wie früher. Sondern mehr wie künftig. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, um uns aus der Zukunft heraus zu erneuern.

Eight Emerging Lessons: From Coronavirus to Climate Action, von Otto Scharmer

#4 Neorealismus – Ein kooperatives Menschenbild

Evidenz dafür, dass der Mensch im Grunde gut ist, hat der Utopist Rutger Bregman in seinem neuesten Buch zusammengetragen. Die Bilder von hamsterkaufenden und „Zähne fletschenden“ Bürgern, die ihr eigenes Leben und Terrain zu retten und abzuschirmen versuchen, in dem sie Ressourcen für sich horten und andere aussperren, sind medial allgegenwärtig. Aber ist das das wahre Wesen des Menschen und ein Vorgeschmack auf die Verteilungskämpfe („Jeder gegen Jeden“) die kommen werden, wenn wir schneller als je gedacht in der „Post-Growth“ Gesellschaft landen?

Die sogenannte „Fassadentheorie“ besagt, dass die zivilisatorische Schicht über unserer Urnatur sehr dünn ist und dass das Barbarische sich nur über strenge Gesetze und eine strafende Instanz bezähmen und befrieden lässt. Der niederländische Historiker und Autor Rutger Bregman („Utopien für Realisten“) hat für sein neues Buch „Im Grunde Gut. Eine neue Geschichte der Menschheit“ das Gegenteil recherchiert. Seine These: Tief in uns drinnen sind wir kooperativ, freundlich, liebevoll, altruistisch und gut. Er wirbt für ein neues Menschenbild. Für eine kommende kooperative soziale Wirklichkeit, in dem er die geschichtliche Evolution als die Durchsetzung des freundlichen sozialen und kooperativen Menschen aufzeigt. Ist der positive Naturzustand des Menschen der Schlüssel für eine neue symbiotische Co-Kultur?

Auf jeden Panikkäufer kommen Tausende, die sich den Arsch aufreißen, von Rutger Bregman

#5 Beautiful Business – Gesellschaftsgestaltend wirtschaften?

Getreu dem Motto des Stanford Ökonomen Paul Romer „a crisis is a terrible thing to waste“ hat sich auch die „House of Beautiful Business“ - Community innerhalb ihrer virtuellen Living Room Sessions gefragt was nach der Krise zu ändern ist. Insbesondere für die Wirtschaft und die Unternehmen. Die Rolle der Wirtschaft für die nächste Gesellschaft wird eine entscheidende sein. Was ist das neue „Business as usual“? Ist die Diskussion um den Purpose von Unternehmen mehr als als lediglich ein symbolisches Anzeichen dafür, dass ein Umdenken jetzt auch einem neuen Wirtschaftsdenken und zu neuen Wirtschaftsverhalten führen wird? Nehmen die (Tech-) Unternehmen ihre gestaltende humane Aufgabe im Gesellschaftssystem für die Demokratie, Sicherheit und Freiheit neu wahr (Post-Techlash) und entdecken ihre idealistischen Wurzeln wieder oder wird sich mit der Krisenerfahrung der „Dataismus“ und die wissenschafts-basierte Entscheidungsfindung durchsetzen, die den Optimierungsgedanken des sozialen Körpers eher nüchtern aussteuert. Datenbasierte Überwachung und intelligente Mustererkennung, um sofort und konsequent ins System eingreifen zu können. Wirtschaft als datenbasierte Verhaltensteuerung und Durchsetzung des größtmöglichen Effekts. Auch für uns als arbeitende Wesen hat diese Krise im besten Fall eine neue Erfahrung parat wie Jessica Orkin, CEO bei SYPartners weiß: Wir nehmen uns und unsere multiplen Identitäten, die wir bei der Arbeit und darüber hinaus annehmen, jetzt in der Konvergenz anders wahr, erleben uns vielschichtiger und ganzheitlicher. Und spüren womöglich, dass unser Selbstwert bleibt, auch wenn unsere „Arbeits-Produktivität und Wirksamkeit“ gefühlt nachlässt. Es gibt einen Sinn im Weniger. Um mit Orkin in dieser gelungenen Living Room Session zu sprechen: „I hope that the crisis would help leaders design their organizations as organisms whose output is whole and healthy people, not just financial returns or consumer value.“

The Great Reset: What Will (Need to) Change after the Crisis?, von Tim Leberecht

 

Autor: Stefan Baumann

Konsumpsychologe Stefan Baumann entwickelt Markenvisionen, Transformations- und Innovationskonzepte auf Basis von Insights über Konsumkultur im Wandel. Besonders gerne berät er inhabergeführte Unternehmen, die über eine Erneuerungsstrategie wieder mehr Relevanz in einem veränderten Marktkontext gewinnen wollen.

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