#CODES & NARRATIVE

Angel Schmocker
Expert Mental Health Trends
02.09.2021 | Lesezeit: 7 Minuten

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Digitale Emanzipation als Gruppentherapie

Wie hängen weibliche Emanzipation und psychische Gesundheit zusammen? Im dritten Teil der Serie „Sick Style“ stellt die Trendforscherin Angel Rose Schmocker die Verbindung zwischen diesen beiden Themen her und zeigt die entstehenden Spannungsfelder auf. Sie ist sich sicher: Emotionale Bilder im Netzwerk zu verbreiten hat selten etwas mit reiner Selbstdarstellung zu tun.

 

Feminismus? Psychische Gesundheit? Emanzipation!

Weibliche Emanzipation und Mental Health sind ein Powercouple mit mehr Gemeinsamkeiten, als man auf den ersten Blick annehmen könnte: Viele der traurig-schaurigen digitalen Inhalte, überschneiden sich auf mehreren Ebenen mit feministischem Content und weiblicher Visualität. Was auf den ersten Blick wie Selbstdarstellung und Narzissmus aussieht, offenbart auf den zweiten Blick den Ausdruck von Wiederstand der Frauen gegen etablierte Normen. Insbesondere die Bedeutung der weiblichen Emotionalität ist dabei ein verbindendes Element.

 
“In 2014, artist Audrey Wollen explained her ‘Sad Girl Theory’, the idea that sharing feelings across the Internet was not necessarily narcissism but a form of feminist resistance: Girls’ sadness is not passive, self-involved, or shallow, it is a gesture of liberation, it is articulate and informed, it is a way of reclaiming agency over our bodies, identities, and lives.”


Wollen in Miotek, 2016

Soziale Medien als öffentliche Gefäße unserer Identitätsfindung

Ein wichtiger Teil der mittlerweile populären Strömung, lässt sich unter dem Begriff Empowerment zusammenfassen. Tags wie #Youmatter und #Yourfeelingsmatter zeigen, dass die Bedeutung des Einzelnen eine große Rolle spielt.

Tags und Slogans wie diese sind in Genderdiskussionen, sowie unter Beiträgen zu emotionalen Themen aktuell mindestens zu gleichen Teilen zu finden. Man kann sich das vielleicht in etwa so vorstellen: Wir starten morgens mit einem Scroll durch unseren Feed, tauchen in die kämpferischen Bildwelten von @Guerillafeminismein und tauchen vielleicht erst bei @sadqueerawareness wieder auf. Von „I learnt to be happy with my mental illness“, zu „I learnt to be happy with my body“ oder zu „Sexuality“ ist es nur noch ein Katzensprung.

Man kann sich vorstellen, dass der scheinbare Appell nach Authentizität, welcher unser Zeitgeist und die sozialen Medien an uns richten, die Tendenz eines gewissen Geständnisverhaltens fördert. So werden die großen Themen unseres Lebens als Folge auch online abgehandelt. Ganz vorne mit dabei: unsere Identität, die psychische Gesundheit und Gender.

Destiny Frasqueri aka. Princess Nokia

Ein Sprachrohr des ganzheitlichen Empowerments ist zum Beispiel Destiny Frasqueri. Die 25-Jährige Afro-Nuyoricanische Rapperin und Aktivistin aus der Bronx ist das neue Idol des Feminist Urbanism . Unter dem Bühnennamen „Princess Nokia“ hat Destiny weltweiten Bekanntheitsgrad erlangt. Nicht zuletzt, weil sie sich als Teil des noch jungen Genres Queer Hip-Hop identifiziert – die Szene, in der sie ihre ersten Schritte gemacht hat. Sie rappt für Millionen von Zuhörern über ein neues Frauenbild. In dem es Platz für Maskulinität, für ethnische Uneindeutigkeit und Holistik gibt. Sie singt über Body-Positivity, Comics, Bisexualität, Weed, Hexenrituale, Rassismus, Colorismus und Depressionen im gleichen Satz.
Parallel zu ihrem steilen Aufstieg, welcher sie bereits auf eine ausverkaufte Europatournee brachte, gründete sie die Radiosendung „The Smart Girls Club“ , in der sie über Empowerment und Mental Health philosophiert. Das Credo der jungen Musikerin ist: Frauen sind Multidimensionale Wesen.

Voneinander, miteinander, übereinander lernen

Interessant wird es, wenn man sich die dabei verlinkten Inhalte genauer anschaut. Man merkt recht schnell: Instagram, Online-Magazine und Twitter haben mittlerweile eine große wissensvermittelnde Funktion übernommen und es wird teilweise eine äußerst seriöse und ernsthafte Aufklärung betrieben.
Wir informieren und werden informiert – und das an universell erreichbaren Orten des öffentlichen Austausches. Uns werden Themen vorgeschlagen, mit denen wir uns proaktiv vielleicht nicht auseinandergesetzt hätten.

So bekommen wir Einblicke in vermeintlich höchstpersönliche und tabuisierte Gebiete: Es berichten Leute freizügig über Schizophrenie und sexueller Belästigung. Eine Form von Wissen, welche sein Publikum auch mal über komplexe politische und soziale Themen bildet. Denn diese Einblicke in die Realitäten virtuell fremden Leuten gehen uns schnell persönlich an — ob wir es wollen oder nicht.
Sie gehen außerdem Hand in Hand mit einer Community, in der man sich über Erlebtes und Gesehenes austauschen kann. Praktischerweise übernehmen diese Communities auch eine inkludierende Funktion. Die digitale Emanzipation ist von allen und für alle.

Exkludierende Grenzen verschwinden zwar nicht vollständig, aber sie werden zunehmend vermischt und neu definiert. Wir bewegen uns im Netz in einer Art Opensource-Schule und Inhalte, die uns als digitale Konfrontationen mit emotionalen Inhalten Einsichten vermitteln, sind ein öffentliches Gemeingut.
Die damals 16-jährige Nachwuchsschauspielerin und Aktivistin Rowan Blanchard formulierte es auf Twitter wie folgt: „When I say I srsly learned about intersectional feminism from teens on the internet I mean it – Adults were not teaching me this stuff“ – Dank Social-Media-Accounts, die Frauenthemen und Empowerment thematisieren.

Adwoa Aboah - "Gurls Talk"

„Gurls Talk“ ist ein ähnliches Format, das seit 2015 hohe Wellen schlägt. Die vom nigerianisch-britischen „Model of the Year“ Adwoa Aboah gegründete Online-Community, war ursprünglich ein Instagram-Account der es zum Ziel hatte, Mädchen zum offenen sprechen zu motivieren – zum Beispiel über Themen wie Empowerment, Body-Positivity, Feminismus, Mental Health und Rassismus.
„Gurls Talk“ ist heute eine erfolgreiche Website mit diversen Kolumnen, Videobeiträgen und Live-Event-Reihen. So fand zum Beispiel im Dezember 2018 ein #freeperiod Protest statt, mitsamt weltberühmten Gastredner*innen und einer lauten Demonstration. Bei den regulären Events der Reihe sind auch Beziehungsexperten und Therapeuten eingeladen, die das junge, weibliche Publikum fachmännisch beraten können.

Geschlechterrollen haben Einfluss auf die Psyche

Durch die Überschneidung der Themen Mental Health, Empowerment und der weiblichen Emanzipation wird außerdem der effektive Einfluss des Genders auf die Psyche deutlich. Denn sowohl Männer, als auch Frauen stehen unter dem Druck spezifischer Rollenbilder, die sie in verschiedene Richtungen beeinflussen – auch wenn oft unterbewusst.

„The patriarchy sets up rigid parameters for what men and women should be. Pressure to adhere to strict gender roles can exacerbate emotional and mental health issues for some and discourage others from seeking treatment.“ – Ginny McQueen

Diese Erwartungen fungieren als Stressor und Trigger von Angststörungen, Depression und ähnlichen Symptomen bei Mann und Frau:

Women are being diagnosed for their issues because they seek help for those issues, while women are often shamed for our emotions, traditional gender roles assume women to be emotional, while men are taught to be tough. Women aren’t told to ‘suck it up’ or ‘be a man‘.” – Janis H. Jenkins & Mary-Jo Del Vecchio

Sick Style ist Fluid, genauso wie unsere Identität

Die Verknüpfung von Mental Health und Feminismus ist eine Allianz, die eine lange Vorgeschichte hat. Da sich die beiden Themen immer wieder beeinflussten ist es wenig verwunderlich, dass sich auch die Online-Communities nun überschneiden und sich gegenseitig unterstützen.
Denn auch unser digitales Ich ist heute zunehmend ein fluider Zustand und wir fühlen uns auf diversen Ebenen angesprochen: Als Mensch mit Burnout, als Mensch einer ethnischen Minderheit, als Mensch, der mit diversen Formen der Diskriminierung zu kämpfen hat – ob physisch, psychisch, rassistisch, homophob.
So ist die digitale Emanzipation Vertrauenslehrer und große Schwester in einem. Sie appelliert an uns – als Frau, Queer, Minderheit, psychisch erkrankte Person. Oder wie immer öfters: Als Symbiose von allem zusammen.

Dass mit solch polarisierenden Themen auch eine ungeheure Follower-Basis und viel Geld generiert wird, sollte dabei jedoch nicht zu naiv betrachtet werden: Mental Health ist ein Trend, genauso wie Feminismus. Wie es mit dem Greenwashing bereits passiert ist, kann man auch bei diesen Strömungen nicht ignorieren, dass sie sich perfekt eignen, um auch vom Mainstream mitaufgenommen zu werden.

Buch „Netzfeminismus“

Im BuchNetzfeminismus“ aus der aktuell erschienenen Publikationsreihe der „Digitalen Bildkulturen“, der Deutschen Kulturwissenschaftler*innen Wolfgang Ullrich und Annkathrin Kohout, wird sehr treffend beschrieben, wie man sich die Popularität einer weiblichen Ästhetik im Netz erklären kann:

„Für die Sprache hatte bereits Silvia Bovenschen festgestellt, dass die Epoche der Empfindsamkeit im 18. Jahrhundert zu einer Feminisierung der Literatur geführt habe. So seien ‚Elemente des traditionell den Frauen zugeschriebenen Sets sensitiver Eigenschaften und Fähigkeiten (…) aufgewertet und zu einem wesentlichen Bestandteil des kulturellen Gefüges‘ geworden. (…) Heute aber ist der entschei-dende Punkt die Möglichkeit der Frauen, sich in und mit den Sozialen Medien zu vernetzten und ihre Bilder selbst zu vertreiben. Dominante, die Gegenwartskultur prägende ästhetische Standards und Bildmotive wurden von Frauen entwickelt. Und Sie haben es geschafft, dass ihre Bildwelten und Motive schnell in der Werbung, in der Mode und in der Kunst Verbreitung fanden.“ – A. Kohout

"Being soft ist an act of resistance"

Das Bedürfnis nach einer softeren Welt scheint sich immer mehr wie ein roter, oder besser gesagt pastellfarbener Faden, durch unsere digitalen — und auch analogen Welten zu ziehen. Wenn man einen Ausblick wagt, wie sich der „Sick Style“ in Zukunft weiterentwickeln wird, ist eines sicher: Das Fluide wird sich noch stärker herausbilden. Die Nachfrage nach inklusiv-diversem Content, sowie das beinahe organische zusammenfinden von Hybrid-Organisationen, Beiträgen und Online-Communities, die jegliche Aspekte unserer komplexen Identitätsbildung abdecken, unterstreicht diese These unmissverständlich.

Literatur:

  • Bebbington, Paul. Sex and depression. Psychological Medicine, US National Library of Medicine National Institutes of Health, 1998, S. 28, S. 1-8.
  • Zukunftsinstitut: Netzfeminismus, in: Trendstudie Gendershift — Die Zukunft der Geschlechterrollen in Wirtschaft und Gesellschaft, Frankfurt, 2015, S. 82.
  • Kohout, A: Netzfeminismus – Strategien weiblicher Bildpolitik, Verlag Klaus Wagenbach Berlin, 2019 S.53.
  • Mlotek, H. The Hidden Vulnerabilities of @SoSadToday. The New Yorker. Retrieved from https://www.newyorker.com/books/page-turner/the-hidden-vulnerabilities-of-sosadtoday (2016, June 12).
  • Jenkins Janis H. Vecchio, Mary-Jo Del: Woman and global mental health, vulnerability and empowerment, in: Samuel O. Okpaku (hg.): Essen-tials of Global Mental Health, Nashville, 2014.
  • McQueen, Ginny: Feminism for the win, again, Huffpost, https://www.huffingtonpost.com/entry/how-feminism-could-be-good-for-mental-health_us_55d34452e4b0ab468d9e60cb aufgerufen am 20.12.2017.

 

Autorin: Angel

Angel lebt und arbeitet als selbständige Trendforscherin in Zürich. Nach ihrem Masterabschluss an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) 2018 forscht sie im Rahmen eines Forschungsprojektes als Stipendiatin des Instituts für Designforschung und wissenschaftliche Assistentin zum Sick Style. Daneben führt sie Interviews und Workshops durch und berät rund um Mental Health, Digitalisierung und designethnographische Forschung.

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