Unsere Bewältigungsstrategien für einen angenehmeren Alltag zuhause
„Die Arbeitswelt befindet sich in einem tiefgreifenden Strukturwandel“1 schrieb der Soziologe Gerd-Günther Voß bereits 1998. Der aktuelle Diskurs um Entgrenzung, Flexibilisierung und Digitalisierung zeigt, dass der Strukturwandel nach wie vor anhält und 20 Jahre später aktueller ist, als je zuvor. Lesen Sie mehr über den gesellschaftlichen Einfluss und unsere „Bewältigungsstrategien“, die man in Form kultureller Codes und Narrative aktuell beobachten kann.
Mit der Digitalisierung lösen sich traditionelle Grenzen von Arbeit und Privatleben zunehmend weiter auf. Das aktuelle Thema Homeoffice setzt dieser fluiden Vermischung und Entgrenzung der beruflichen und privaten Sphäre noch ein i-Tüpfelchen auf – oder um es auf den Punkt zu bringen, es sprengt die bisherigen Rahmen. Seit ungefähr einem Jahr wird dieser Trend durch die Covid Pandemie beschleunigt. Viele von uns fanden sich plötzlich in ihren eigenen vier Wänden wieder und somit auch neuen Herausforderungen gegenüber: Was früher ein klar definierter Raum für das Private, die Familie und die Erholung war, muss heute deutlich vielfältigere Anforderungen erfüllen. Unser Zuhause ist ein multifunktionaler Raum geworden, der Büro, Schule, Kita, Fitnessstudio/Spa, Erlebnisraum und vieles mehr vereint. Damit wird unser zu Hause zur Bühne für alles.
Gesellschaftliche Veränderungen
Das alles bleibt nicht ohne Auswirkung – es macht etwas mit uns: Neue Bedürfnisse und Sehnsüchte werden geweckt und überraschende Erkenntnisse kommen zum Vorschein. Insgesamt ist die Arbeit menschlicher geworden – immerhin 31% fühlen sich seltener peinlich berührt oder beschämt, wenn ihr Privatleben bei der Arbeit zum Vorschein kommt und 39% der Befragten* sind bereit bei der Arbeit ihr volles, authentisches Selbst zu sein. Dieses höhere Wohlbefinden wird langfristig auch zu einer stärkeren Arbeitsbeziehung und damit Produktvität führen.
Natürlich haben die Entwicklungen aber auch Schattenseiten – Anstiege häuslicher Gewalt, vernachlässigte Kinder und das Aufleben alter Rollenbilder sind nur einige der Beispiele. Besonders herausfordernd ist die aktuelle Lage auch für die Generation Z: 60% dieser Generation – die zwischen 18 und 25 Jahre alt sind – sagen, dass sie gerade nur überleben oder regelrecht kämpfen. Junge Menschen in diesem Alter sind häufiger alleinstehend und am Anfang ihrer Karriere, was dazu führt, dass sie eher die Auswirkungen der Isolation zu spüren bekommen, mit der Motivation bei der Arbeit kämpfen oder nicht über die finanziellen Mittel verfügen, um sich zu Hause einen angemessenen Arbeitsplatz zu schaffen. Auch längere Arbeitszeiten, Erschöpfung, Zoommüdigkeit und das Gefühl von konstanter Überwachung führen zu einem mentalen Ungleichgewicht, das zu krankheitsförderndem Stress und Depressionen führen kann.
Ein weiteres Phänomen: der Zwang, die ‚freie‘ Zeit optimal nutzen zu müssen, um das jeweils vorhandene Potenzial maximal auszuschöpfen. Das klingt zunächst gut, kann aber auf Dauer sehr anstrengend werden. Wir müssen also auch lernen, ab und zu nichts zu tun und die „slacker culture“ zu feiern. Daher nachfolgend ein paar „Bewältigungsstrategien“, die wir in Form kultureller Codes/Narrative aktuell beobachten:
Bewältigungsstrategien
1. Adapt! – Raum multifunktional gestalten
Das Zuhause muss den sprunghaft gewachsenen Anforderungen seiner Bewohner entgegenkommen. Was nicht passt, wird eben passend gemacht. Adaption ist das Zauberwort: Mit etwas Flexibilität, Ideenreichtum und Organisationstalent läuft die fließende Transformation der Räume je nach den Bedürfnissen ihrer Bewohner zwar auch nicht immer ganz problemlos ab, dafür eröffnet sie aber ganz neue Möglichkeiten und im wahrsten Sinne des Wortes “Raum” für neue Erfahrungen, Gedanken und Emotionen in den eigenen 4 Wänden. So hilft uns der Wandel des Raums, um mit dem Wandel unserer Bedürfnisse umzugehen und hoffentlich etwas stressfreier zu leben. Eine weitere clevere Adapt!Idee, um von der anhaltenden Umstellung auf‘s Homeoffice zu profitieren: momentan bieten einige Firmen ein separates, freistehendes Büro im eigenen Garten an.
Kulturelle Welt: Mehrzweckhallen, Adaption, Tiny House/Micro Living Bewegung
Brands: z.B. IKEA, Rewe, Home 24, etc.
2. Declutter! – Fokus setzen, auf das, was wirklich wichtig ist
Bei allen Unsicherheiten, den Veränderungen und dem Chaos da draußen, suchen wir Halt durch Ordnung und Struktur, Klarheit und einen Fokus auf die wesentlichen Dinge im Leben bei uns zu Hause. Ausmisten, “klar Schiff machen”, putzen und sich bewusst werden, was im Leben für einen wirklich zählt – eine zentrale Bewältigungsstrategie, die uns seit dem ersten Lockdown begleitet und z.B. in Form von langen Schlangen vor Wertstoffhöfen oder regem Geschäft auf Online Tauschbörsen und Verkaufsplattformen sowie in zahlreichen “Decluttering” Serien (z.B. “Aufräumen mit Mari Kondo", Netflix) sichtbar wird.
Kulturelle Welt: Mari Kondo, Minimalismus, Downsizing (Einfach leben)
Brands: z.B. Momox, Room in a Box, Ebay etc.
3. Get creative! – Kreativ und humorvoll die Krise verarbeiten
Wenn das Leben uns vor Herausforderungen stellt, sind unsere Kreativität und Humor zwei der mächtigsten Instrumente, die wir zur Bewältigung zu Verfügung haben. Dank Kurzarbeit, gelangweilter Kinder und von der Eintönigkeit frustrierter Erwachsener, haben wir das gemacht, was uns Freude und Abwechslung bringt und guttut: Wir haben losgelegt und sind zu MeisterkünstlerInnen, HobbyköchInnen, BastelkönigInnen, FloristikexpertInnen und QuatschmacherInnen geworden. Unsere Psyche dankt es uns.
Kulturelle Welt: DIY, Baumärkte, Online Kurse/Tastings, Offene Bühne, #GettyMuseumChallenge
Brands: z.B. TikTok, AirbnB, Samsung, Bauhaus, Domestika
4. Relax and Care! – Energie tanken, achtsam mit sich umgehen
Das Zuhause ist noch immer der Ort zum Runterkommen, ein Safe Space. Gerade in fordernden Zeiten ist es wichtig für den Ausgleich zu sorgen, etwas Energie zu tanken und sich um sich selbst zu kümmern. Können wir nicht ins Yoga Studio, zur Meditationsstunde oder ins Day Spa, so muss es eben zu uns kommen. Es braucht nicht viel, um für etwas mehr Ausgleich und Balance zu sorgen. Die wichtigste Voraussetzung ist, seine Bedürfnisse ernst zu nehmen und Zeit für Entspannung zu schaffen. Dieses wachsende Bedürfnis lässt sich kulturell in Angeboten wie “Mindful Minutes” (Podcast), Coachings wie z.B. Breath Work, Anleitung für DIY Day Spas, Serien “Headspace – Eine Meditationsanleitung” (Kooperation Headspace und Netflix) oder Apps wie “Nerva” und “Calm” beobachten.
Kulturelle Welt: Achtsamkeit/ Mindfulness, Wellness, Self Care, New Spirituality
Brands: z.B. Bosch Smart Home, Lush, Rituals
Preferable Future
Was also können wir als Gesellschaft, aber auch als Unternehmen daraus lernen? Feststeht: 43% der Büroangestellten wollen auch künftig mehr als die Hälfte ihres Arbeitsalltages im HO verbringen. Daher wird uns dieses Thema auch nach der Pandemie weiterhin begleiten.2
Für jeden von uns: Wir müssen Grenzen setzen, flexibel sein (Wuwei "Handeln durch Nichthandeln") und achtsam mit unseren Ressourcen umgehen – Adaption ist eine Stärke des Menschen, lasst sie uns positiv nutzen, anstatt uns selbst auszubeuten.
Gesellschaft/Politik: Die Krise ist wie ein Brennglas, es wird deutlich, was nicht funktioniert und wo die Probleme einer Gesellschaft liegen. Wir müssen weiterkommen a) in der Gleichberechtigung, b) bei der Entlastung der Eltern, wenn eine Gesellschaft sie dazu auffordert, Vollzeit zu arbeiten oder die Lebensumstände es erfordern, c) beim Thema häusliche Gewalt, d) wir sehen, wie wichtig Schulen und bestimmte systemrelevante Berufe sind. JETZT können Politik, Gesellschaft, Organisationen/Verbände, Unternehmen die Weichen für eine „preferable future“ beim Home Office stellen und Themen angehen wie Recht auf Home Office, Ausstattung, Steuern/Absetzen von HO Kosten, Work Spaces, und ernsthaft realisierbare flexible Arbeitszeitmodelle.
Brands: Supportangebote, die uns helfen im Home Office zu "überleben" z.B. Zeit sparen und Entspannen, Lieferservices wie Gorilla/Lieferando/Rewe, Curated services z.B. Hello Fresh
Sozialisierungsangebote: Virtual Socializing z.B. Apps wie Houseparty/Clubhouse
Ausgleichsangebote: Fun z.B. GarticPhone/ TikTok und Mindfulness z.B. Apps wie „calm“, “Headspace”
Unternehmen: Da über 40 % der weltweiten Belegschaft* erwägen, ihren Arbeitgeber in diesem Jahr zu verlassen, wird ein durchdachter Ansatz für hybrides Arbeiten entscheidend sein, um vielfältige Talente zu gewinnen und zu halten. Bei so viel Veränderung, die die Menschen im letzten Jahr umgetrieben hat, bewerten Angestellte ihre Prioritäten, ihre Heimatbasis und ihr gesamtes Leben neu. Die Art und Weise, wie Unternehmen die nächste Arbeitsphase angehen – die positiven Aspekte zu nutzen und aus den Herausforderungen des letzten Jahres zu lernen – wird sich darauf auswirken, wer bleibt, wer geht und wer letztendlich in dem Unternehmen arbeiten möchte. Durch Corona haben wir festgestellt, dass traditionelle Vorstellungen von Raum und Zeit nicht mehr gebunden sind, um zusammenzuarbeiten, daher ist eine richtige Ausstattung und das Vertrauen in die Mitarbeiter von großer Bedeutung. Auch die Bekämpfung der digitalen Erschöpfung sollte eine hohe Priorität für alle Führungskräfte haben – also die Arbeitsbelastung der Mitarbeiter reduzieren und eine Kultur auszuleben, in der Pausen gefördert und respektiert werden. Eine monetäre Unterstützung, ob nun im größeren oder kleinen Rahmen, z.B. in Form eines Zuschusses zum Mittagessen, Büromaterialien, setzen Zeichen der Fürsorge und Dankbarkeit. Auch mehr Flexibilität der Arbeitszeiteinteilung für Familien mit Kindern, 4-Tage-Wochen, „Zoom free Fridays“, 2-3 Tage Home-Office pro Woche, keine Termine in der Mittagspause und Breath Coachings können beispielsweise inspirierende Lösungsansätze darstellen.
1 vgl. Voß/Pongratz 1998: 473
2 Studie „Intitative Chefsache“ mit 1000 Arbeitnehmern, Oktober 2020
* Befragten der weltweiten Microsoft Mitarbeiter
CHANGING CULTURES MAGAZIN
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