Kulturelle Relevanz im postdigitalen Zeitalter
Am 26. Mai hat Europa gewählt. Im Zuge der „Fridays for Future“ Bewegung wurde schon im Vorfeld häufig getitelt, die diesjährige Europawahl sei eine Klimawahl und eine Wahl mit der sich die Bürgerinnen und Bürger für oder gegen Europa entschieden. Zur Freude der jüngeren Generation und entgegen der Erwartungen weiterer Nationalisierungstendenzen hat Europa ein weiteres Mal die Zerreißprobe bestanden.
Uns als Kulturforscher interessiert dabei vor allem, welche gesellschaftlichen Entwicklungen den Wahlergebnissen zu Grunde liegen. Welche Phänomene lassen sich aktuell ausfindig machen und inwiefern verbergen sich darin Chancen, damit sich Menschen wieder als selbstwirksam und bedeutungsvoll erleben?
Drei bereits viel diskutierte Entwicklung konnten wir bei den Wahlergebnissen in Deutschland insbesondere beobachten:
- Zum einen haben die Parteien der Mitte, Sozialdemokraten (-11,5%) und Konservative (- 6,4%) einen klaren Stimmenverlustzu verzeichnen.
- Zudem zeigt sich in der Suche nach Alternativen, eine Protest- und Sammlungsbewegung, die sich in der Entstehung viele neuer Parteien niederschlug.
- Außerdem lässt sich einerseits eine massive Abkehr (Grüne, + 9,8%) und andererseits eine starke Unterstützung des Populismus (AfD, +3,9%) beobachten.
Mit Philosoph Michael Sandel lässt sich eine Verbindung in den politischen Entwicklungen finden: „Der Aufstieg des Populismus ist eine Gegenreaktion auf die Verarmung des öffentlichen Diskurses“. Wir haben es zunehmend mit einer öffentlichen Auseinandersetzung zu tun, die kein moralisches Gehalt mehr hat, die frei ist von Debatten über politische Identitäten und gemeinsame Ziele.
Fehlendes Vertrauen
Zu einem ähnlichen Schluss kommt die aktuelle Vermächtnis Studie der Zeit und des WZB (Wissenschaftszentrum Berlin), die vor wenigen Tagen beim deutschen Sparkassentag von Frau Prof Dr. Allmendinger vorgestellt wurde: Die gesellschaftlichen Bereiche in denen es knirscht, sind auf fehlendes generalisiertes Vertrauen zurückzuführen. Die “Entfremdung” die wir derzeit verspüren, wird laut Studie nicht durch ein fehlendes Wir-Gefühl (bonding), sondern fehlendes Vertrauen (bridging) ausgelöst. Wir erleben eine Vertrauenskrise in Bezug auf die gemeinsamen geteilten Werte. Vertrauen wird jedoch gerade dadurch aufgebaut, dass man in diversen sozialen Zusammenhängen lebt – mit Menschen anderer (politischer) Gesinnungen, die man nicht so gut kennt.
Megatrends wie Digitalisierung befeuern die drohende gesellschaftliche Spaltung: Laut Neurobiologe und Hirnforscher Gerald Hüther stecken wir „im Augenblick im größten Transformationsprozess der Menschheitsgeschichte seit der Sesshaftwerdung“. Entsprechend fordert auch der Managementexperte Dr. Reinhard Sprenger einen radikalen Perspektivwechsel: Denn „die digitale Transformation ist keine Frage der Technik, sondern eine Frage der Kultur. Sie ist im Kern eine soziale Transformation“.
Kulturelle Evolution funktioniert dabei stets nach einem dialektischen Prinzip. Auf einen Trend folgt ein Gegentrend. Auf diese Weise bleibt das soziale System in einem systemischen Gleichgewicht. Die Digitalisierung ist schon zu einem großen Teil in unserem Alltag angekommen. Sie hat die Art wie wir kommunizieren, einkaufen, arbeiten oder auch wie wir Beziehungen führen, verändert. Gleichzeitig hat sie den Wert von analogen Qualitäten neu geschärft.
Welche Phänomene sich aktuell beobachten lassen und wie wir das postdigitale kulturelle Klima so gestalten können, dass Menschen, Kunden und Mitarbeiter durch ihr Handeln auf neue Resonanz stoßen – darüber schreiben wir in den folgenden 3 Beiträgen:
#1 Die Suche nach neuen Gemeinschaften
Instagram, Twitter, Whatsapp… Nie zuvor waren wir besser miteinander verbunden – zumindest im technischen Sinne. Denn ein näherer Blick verrät: Statt vertrauensvolle Beziehungen miteinander einzugehen, bewegen wir uns immer häufiger in abgeschirmten digitalen Parallelwelten. Soziale Blasen und digitale Stämme werden zur Gefahr für eine offene und liberale Gesellschaft.
#2 Zwischen Autonomie und Verbundenheit
Wo früher klare familiäre Strukturen und eindeutige Geschlechterrollen für Orientierung gesorgt haben, findet sich heute eine große Anzahl an Beziehungsmodellen wieder. Im post-digitalen Zeitalter beseht ein paradoxes Spannungsfeld aus Selbstbestimmung und gleichzeitiger Verbundenheit. Wir suchen Freiheit in der Bindung und Bindung in der Freiheit. Doch wie kann das funktionieren? Der neue Imperativ lautet: Konstante Veränderung und Neuerfindung des eigenen Lebens.
#3 Neuer gesellschaftlicher Zusammenhalt
Was hält die Gesellschaft im Innersten noch zusammen, in einer Zeit die von Ungleichheit geprägt ist, in der die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklafft? – Die moderne Gesellschaft sehnt sich nach einem Mehr an ‚Wir’ und sucht nach neuen Wegen gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken – gerade in der Wirtschaft!
Quellen:
Sprenger, R. K. (2018). Radikal digital: weil der Mensch den Unterschied macht – 111 Führungsrezepte(1. Auflage). München: Deutsche Verlags-Anstalt.
Autor: Patrick Eberwein
Patrick Eberwein ist Organisationspsychologe mit einer Vorliebe für gesellschaftsrelevante Themen. Mit seiner Arbeit verfolgt er das Ziel wirtschaftliche und soziale Interessen wieder stärker zu vereinen. Zwischen Bachelor- und Masterstudium arbeitete er als rekonstruktiver Sozialforscher und erforschte die Lebensrealitäten der Bevölkerung in Wien. Heute beschäftigt er sich mit sinnorientiertem Arbeiten, wünschenswerten Zukünften und unterstützt Organisationen in Transformationsprozessen.
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