#MINDSET2030

Stefan Baumann
Managing Partner STURMundDRANG
19.11.2021 | Lesezeit: 7 Minuten

CHANGING CULTURES MAGAZIN > MINDSET2030 > Mindset und Konsumkulturen 2030

Mindset und Konsumkulturen 2030

Konsument:innen richten ihre Kaufentscheidungen danach aus, wie sie sich selbst und die Gesellschaft in Zukunft imaginieren. Im Kopf spielen wir dabei Aneignungs- und Nutzungsepisoden durch. Wir kaufen uns in unsere eigenen Erwartungsfiktionen ein. In der konsumkulturellen Forschung erkennen wir kollektive Muster in diesen Fiktionen, die Märkte formen und machen. Mit der unmittelbaren Erfahrung von Klimawandel und Pandemie entstehen neue Leit-Narrative eines «belief-driven» Konsum-Mindsets.

POST-PANDEMISCHE BEZIEHUNGEN UND NEUE NARRATIVE

Veränderungen werden durch Krisen getriggert. Die anhaltende Krisenkonstellation von Klimawandel und Pandemie könnte der Hebel für einen globalen Wandel hin zu mehr ökologischer, wirtschaftlicher und sozialer Nachhaltigkeit werden: Sie verändert die Beziehungen zu dem, was und wie wir konsumieren. Um das zu verstehen, haben wir westliche Leitmilieus untersucht. Was treibt sie an, und was wird aus der Konsumgesellschaft, die wir kennen, wenn Konsum das Problem und womöglich auch die Lösung ist?

In unserem systemischen Culture-Thinking-Ansatz strukturieren wir aufkommende soziale Signale in narrative Kulturmuster. «Fiktionale Erwartungen», wie Jens Beckert, Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, sie in seinem Buch Imaginierte Zukunft (Beckert 2018) nennt. Wir treten bereits über die Geschichte in eine zukünftige, fiktive Beziehung ein und empfinden vor. Welche neuen Beziehungsgeschichten lassen sich in der aufkommenden Konsumgeneration erkennen?

Werbung von Fairphone, wie ein Mann über das Handy springt

NEUES VERHÄLTNIS ZUR WELT, NEUE BEZIEHUNGEN ZUM KONSUM

 

1. Neues Verhältnis zum Raum
Die Pandemie hat Arbeits-, Familien- und Schulräume weiter entgrenzt und sie zusammenwachsen lassen. Mit anderen geteilter Raum wie Büros, Verkehrsmittel und Restaurants hingegen wurden zur Risikozone. Unsere Sehnsucht nach Schutzzonen und Eigenraum ist damit gewachsen.

2. Neues Verhältnis zur Zeit
Die anhaltende Unplanbarkeit des Lebens in der Pandemie hat unsere Psyche massiv herausgefordert. Unser Wunsch nach stabilen Bezugspunkten, Kontrollwerkzeugen und Selbstbestimmung ist gewachsen. Ein Beispiel ist die Expansion von Quick-Commerce-Angeboten wie Gorillas, die Lebensmittel innerhalb von 10 Minuten liefern.

3. Neues Verhältnis zum urbanen Versprechen
Der Lockdown hat Städten weltweit ihre soziale und kulturelle Energie abgedreht. Sensibilisiert schauen wir auch auf andere Probleme im globalen Stadtversprechen, wie die Entwicklung der Wohnkosten und überlastete Infrastrukturen. Das Leben im Freien, außerhalb der Stadt und im Nahbereich wird neu kultiviert. «Hof»- und «Manufaktur»-Produkte spiegeln diese Sehnsucht deutlich. Hybride Arbeitsformen erlauben auch den realen Rückzug, z.B. in sogenannte Zoom-Towns. Außerdem hat die Krise Konsument:innen ihre Verantwortung für lokale Händler bewusst gemacht.

4. Neues Verhältnis zur eigenen Verletzlichkeit
Die Pandemie hat ein Schlaglicht auf Themen wie Immunität, Hygiene und Gesundheit geworfen. Wir haben begonnen unseren Körper zu schützen und zu stärken. Dazu gehört auch die mentale Gesundheit. Mentaltrainings, Meditations-Apps und virtuelle Yoga-Klassen finden immer mehr Anhänger:innen. Auch denken Konsument:innen über lebenszentrierte Arbeitsformen nach. In Amerika grassiert bereits die Great Resignation (Mayer, Bravery: Weforum.org 2021), ein Ermüdungsbruch Angestellter mit den eigenen Arbeitsverhältnissen.

5. Neues Verhältnis zum Verbrauch
Wir haben erlebt, wie wenig wir verbrauchen, wenn wir vorwiegend zu Hause leben. Das Haushalten in der Krise hat Konsument:innen zudem vom schnellen Konsum distanziert: Kaufentscheidungen werden bewusster getroffen, Ressourcen umsichtiger eingesetzt, Produkte länger und mehrmals genutzt. Die nächste Welle der Nachhaltigkeitskultur erfasst den Nutzungszyklus. Auf der höchsten Entwicklungsstufe werden Produkte dabei selbst hergestellt, herangezogen (kitchen farming), zubereitet und repariert.

6. Neues Verhältnis zwischen den Generationen
Das Thema Generationenverantwortung ist lange nicht mehr so lebendig geworden wie aktuell. Kann die Corona-Solidarität der jüngeren Generation getauscht werden gegen die Klima-Solidarität der etablierten Generationen? Das neue Bewusstsein wird bereits von Marken aufgegriffen: So wirbt Oatly um die «Post-Milk Generation». Denn für neue Konsumgenerationen müssen in Zukunft alle gewinnen: Mensch, Tier und Planet.

7. Neues Verhältnis zu Marken
Waren Marken jahrzehntelang symbolische Aushängeschilder eines hedonistisch ausgerichteten Lebensstils, müssen sie uns in Zukunft dabei unterstützen, uns selbst und die Welt im Umbruch zu gestalten. Konsument:innen lernen zu gärtnern und gründen Baugenossenschaften. Marken werden zu Visions- und Bewegungsrahmen, wenn sie Services bereitstellen können, die ihre Nutzer:innen weiterbilden und weiterbringen.

DIE NEUEN KONSUMKULTUREN

Welche Muster, Kulturen und Narrative formt unser verändertes Verhältnis zur Welt nun konkret? Das wollten wir untersuchen. Dafür haben wir die Modelle führender Entwicklungspsychologen herangezogen. Das Modell der Spiral Dynamics (Beck, Cowan 2007) eignet sich sehr gut, um den Wandel von Konsum-Mustern darzustellen. Die stärksten Entwicklungen haben wir analog zur Agenda 2030 des Pariser Klimaabkommens der Vereinten Nationen Mindset 2030 genannt. Die übergeordnete Entwicklung darin wird in der Forschung als belief-driven kategorisiert. Laut einer weltweiten Studie der Kommunikationsagentur Edelman ist der ideell getriebene Einkauf bereits seit 2018 als «mainstream» (Edelman.com 2018) zu bezeichnen, weil er in den entwickelten Ländern bereits mehr als 50% ausmacht.

Das Mindset 2030, die Denkweise der belief-driven buyers, formiert sich um drei zentrale Kulturen mit jeweils unterschiedlichen Narrativen als Quellcodes.

Die Caring-Kultur
Ein gutes Gewissen schaffen und positive Werte-Gemeinschaften erzeugen.

Ziel dieser Kulturform ist es, Konsum wieder greifbar und verantwortbar zu machen. Sie besinnt und reduziert sich. Sie grenzt sich klar ab von Ressourcen verschwendender, Müll produzierender, standardisierter Massenware nach industrieller Logik. Sie schafft ein gutes Gewissen und erzeugt positive Werte-Gemeinschaften. Zerowaste ist ein Leitgedanke dieses Mindsets. Marken, die sich in diesem Mindset bewegen wollen, müssen soziale Energie und Zugehörigkeitsgefühle freisetzen. Sie sollten die Vergangenheit schätzen, sich z.B. für vergessene Anbaumethoden, Sorten und handwerkliche Produktionsarten starkmachen. «Dinge mit Seele» nennt es der Versand-Konzeptstore Torquato. Marken in diesem Umfeld werden sich um das Lifetime-Value ihrer Produkte kümmern.

Narrative der Caring-Kultur:

# Sei fair zu Mensch, Tier und Umwelt.

# Nie ist zu wenig, was genügt.

# Es gibt sie noch, die guten Dinge.

Die Autonomy-Kultur
Services auf individuelle Nutzungsmuster einstellen.

Mit einem neuen Autonomie-Bestreben rüsten sich Konsument:innen für eine unsichere Zukunft: Ihr Konsum soll sie selbstbestimmter, resilienter und besonderer machen. Diese Kultur favorisiert Produkt-Service-Bündel gegenüber reinen Produkten. Sharing- und Leasing-Modelle beispielsweise erlauben uns Spontaneität ohne Ballast und Planung. Ich möchte genau das, was ich gerade brauche. Ein Beispiel ist auch das Peloton-Bike, das Live-Training und den Spinning-Kurs nach Hause holt. Der Konsum orientiert sich am Optimum statt am Maximum und macht Marken zu Wertschöpfungspartnern. Marken, die sich in diesem Mindset bewegen wollen, richten sich mit ihrem Angebot nicht an Verbraucher:innen, sondern an Nutzer:innen. Sie müssen «customizen» und ihre Services auf individuelle Nutzungsmuster einstellen.

Narrative der Autonomy-Kultur:

# Mach Dich unabhängig, und schaffe Dein eigenes System.

# Stärke Deinen Körper mit Programmen und Mitteln.

# Finde Dein einzigartiges Profil.

Die Impact-Kultur
Marken werden zu Bewegungen, die Menschen aktivieren und aufklären.

Die Impact-Kultur befindet sich im frühesten Stadium der drei Kulturen, verweist aber auf die weitreichendsten Veränderungen für Unternehmen. Der Impact-Konsum sucht die Wirkung im Großen: Er will den Systemwandel. Selbst Low-Involvement-Marken wie Knorr (Unilever) stellen sich dafür auf: «Become an Eativist», lautet die Botschaft der Bewegung, die Knorr ausgerufen hat (knorr.com 2021): Mit dem Slogan «Help change the world by changing what’s on your plate» wirbt Knorr für weniger Fleischkonsum und eine pflanzlichere Ernährungsweise. Wenn Marken sich in diesem Mindset bewegen wollen, dann müssen sie authentische Haltung zeigen, provozieren und riskieren. Marken werden hier zu Bewegungen, die Menschen aktivieren und aufklären. Sie kommen mit einer klaren Mission, einer Vision und dem edukativen Willen, Verhalten und damit Kultur zu verändern.

Narrative der Impact-Kultur:

# Langlebiges, enkelgerechtes Konsumieren

# Regeneratives und zirkuläres Denken

# Heilung für den Planeten = Heilung für mich

FAZIT UND AUSBLICK: MARKEN ALS TRANSFORMATIONSGÜTER

Die Zukunft des Konsums ist gekennzeichnet durch einen Riss, der sich quer durch unser Verhältnis zur Welt zieht. Das Leben in der dauerhaften Krise hat unsere Beziehungen zum Konsum grundlegend verändert: Wir suchen Bewusstheit, Resonanz und Veränderung. Das bedeutet nicht das Ende der Konsumgesellschaft: Zwar wollen wir nicht mehr hedonistische Symbole ausstellen, wohl aber Transformation anstoßen und zeigen. Wir wollen nicht mehr «verbrauchen», sondern «gebrauchen». Wir besinnen uns auf das Unmittelbare, streben nach dem besseren Selbst und einer besseren Welt.

Wie diese drei Konsumkulturen bereits ineinandergreifen, zeigt das Beispiel des Smartphones. Für Konsument:innen wird immer weniger ausschlaggebend, ob ein Smartphone die noch bessere Rechenleistung oder Kamera hat, sondern wie langlebig und reparabel es ist. Außerdem wird entscheidend sein, wie das Betriebssystem mit den Daten des Nutzers umgeht, um z.B. Mobilität und Reisen intelligenter auszusteuern. Schließlich werden Nutzer:innen danach fragen, inwiefern der Smartphone-Hersteller sich zum Beispiel für einen ethischen Einsatz Künstlicher Intelligenz stark macht. Die Impact-Kultur wird damit die anspruchsvollste für Marken und Unternehmen, denn sie berührt das Gefüge gesellschaftlicher Verantwortung und Gestaltung. Das macht sie auch zum spannendsten Forschungsprojekt.

Dieser Artikel erschien zuerst in dem Magazin für Zukunftsmonitoring "swissfuture".

Bildreferenzen "Header" // "Stories" // "Riss"

Autor: Stefan Baumann

Der studierte Wirtschaftspsychologe Stefan Baumann ist strategischer Transformationsforscher für systemische Verhaltensänderungen. Als Gründer der Agentur STURMundDRANG erforscht und entwickelt er mobilisierende und verbindende Narrative für die Evolution von Menschen, Organisationen und Communities. Sein Cultural-Thinking-Ansatz verfolgt eine Praxis, die wirtschaftliche Transformation als einen menschlichen und gesellschaftlichen Haltungs- und Verhaltenswandel versteht. In seinen Projekten hilft er Unternehmen und Marken, die eigene Position, Relevanz und Mission in einem sich ändernden Marktkontext zu erneuern. Als gefragter Speaker und Autor veranschaulicht er in seinen Studien, wie kultureller Wandel ein neues Konsumenten- und Mitarbeiter:innenverhalten hervorbringt.

CHANGING CULTURES MAGAZIN

Ähnliche Artikel

ZUR ÜBERSICHT