#CODES & NARRATIVE

Angel Schmocker
Expert Mental Health Trends
02.09.2021 | Lesezeit: 5 Minuten

CHANGING CULTURES MAGAZIN > CODES & NARRATIVE > Die virtuelle Welt des Leidens

Sick Style – Willkommen in der virtuellen Welt des Leidens

Wie gehen digital natives heute mit Themen wie Traurigkeit und Krankheit um? Sick Style beschreibt einen Trend, bei dem ehemalige Tabus in den sozialen Medien plötzlich offen diskutiert werden und Ironie den Umgang mit schweren Themen erleichtert. Hardcore ist es heute, soft zu sein. Wir stellen den Sick Style näher vor und zeigen die Ergebnisse einer design-ethnographischen Forschung.

Depressionen dienen als Selfie-Material und psychische Störungen werden zum Teil unserer Identität wie Geschlecht, Sexualität und Nationalität. In Abgrenzung zum Perfekten und Gesunden beschreibt Sick Style das Prekäre und Stigmatisierte. Eine psychische Erkrankung, eine Krise oder schlichtweg ein emotional aufgeladenes Thema wie das der Selbstfindung werden zum Inhalt von Social Media-Posts.

Die Gesellschaft leidet heute online öffentlicher denn je

Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO leiden mehr Menschen als je zuvor an chronischen Angstzuständen und Depressionen. Da unser digitales Ich immer mehr zum Abbild des Zeitgeistes wird, findet Sick Style in erster Linie in einem komplexen, eigendynamischen Kosmos aus Social Media-Kanälen statt – zum Beispiel in Insta-Stories, Online-Plattformen, Communities und lebhaften Kommentarspalten. Anders als beispielsweise die Emo-Bewegung ist Sick Style keine Subkultur der physischen Welt – obwohl sich die Beliebtheit der Emotionalität auch schon mal auf dem Laufsteg wiederfindet.

Die Einblicke in die noch laufenden Forschung zeigen dass das öffentliche Thematisieren und Inszenieren von Emotionen ein internationales Phänomen zu sein scheint. Sick Style findet auf der ganzen Welt statt und zeigt sich bei den unterschiedlichsten Menschen – von deutschen Schülern, die Instagram-Stories aus der psychiatrischen Klinik teilen, bis hin zu 50-jährigen Amerikanern, die über ihr Burn-Out vloggen.

Es handelt sich um einen Lebensstil, der für einen veränderten Umgang mit der psychischen und ganzheitlichen Gesundheit steht. Wobei sich hier auch der Individualisierung abzeichnet – eine Suche nach Identität und Sinn. Die Dringlichkeit und Aktualität des Themas spiegelt sich in einer rapide wachsenden Popularität. Diese wachsende Tendenz zur Thematisierung und Inszenierung von persönlichen Inhalten, zeugt von einem extremen Mitteilungsbedürfnis, das bis vor ein paar Jahren in der Weise noch nicht denkbar gewesen wäre. Dank Anonymität in der digitalen Sphäre und der zunehmenden awareness zu unserer Psyche und unserem Gefühlsleben wird eines der letzten Tabus unserer Gesellschaft zunehmend öffentlichkeitstauglich.

"You don‘t have to be mentally ill to take care of your mental health."

Die virtuelle „Mental Health“-Welt ist geprägt von Extremen: Simple living-Blogger füllen deinen Feed mit gut gemeinten Tutorials. Süße, farbige Apps sollen dir helfen deine Stimmungen und Gewohnheiten zu tracken. Therapeuten bieten Online-Beratung auf Instagram an. Clickbait-Artikel locken mit Anti-Depressions-Hacks und „Emotional health activist“-Accounts. Ein Raum der Aufklärung, aber auch ein Labyrinth mit triggernden Inhalten wie Anorexie-Darstellungen und Self Harm. Die Überidentifizierung und -romantisierung der eigenen Diagnose kann, speziell für Jugendliche, zunehmend zum Risiko werden.

Talking about mental sickness

In den Ergebnissen der Forschung kristallisieren sich im Sinne des Trends Sick Style drei Kategorien der Kommunikation heraus, die bestimmen, wie sich die Beteiligten in den Sphären der sozialen Medien über ihre Emotionen austauschen.

Therapeutisch

Social Media dient heute mehr denn je als Kanal für Fachpersonen wie TherapeutInnen und wohltätige Organisationen, die Online-Beratung anbieten, und dort aktiv mit Jugendlichen im Austausch sind. Die community selbst übernimmt im digitalen Raum immer mehr klassische Therapiemethoden, aber vermittelt auch allgemeine Tipps zum „emotional well-being“. Dabei sind Memes ein bei Jugendlichen beliebtes Austauschmedium, die in diesem Kontext auch verständlich machen sollen, wie sich Depressionen und andere psychische Krankheiten wirklich anfühlen.

"Our generation will be known for wanting to die and memes."

Anonym

Verhüllungs-Strategien wie doppelte Identitäten stehen beim hacking der digital natives im Zentrum, wenn sie prekäre Themen oder auch Spamaccounts betreiben.

Beichtend

Das Beichtverhalten stellt eine wichtige Facette unserer Selbstthematisierung dar, die von religiösen Sphären in die virtuelle Welt übernommen wird. Die eBeichte beinhaltet ernste Mitteilungen, intime Geständnissen und emotionale Enthüllungen bis hin zu Suizidplänen.

The beauty of Sick Style

Wie sieht die Ästhetik des Sick Style aus? In den Postings, die die Basis der semiotischen Analyse bilden, finden sich Dimensionen von ehrlicher Hässlichkeit, ganzheitlicher Mystik, bitterer Ironie und weicher Dunkelheit. Die ästhetischen Dimensionen der virtuellen Welt der Gefühle sind geprägt von Extremen.

Sadical

Dies ist die prekärste Facette des Trendphänomens: Vage Andeutungen von Krisengefühlen weichen hier vermehrt echten Krankheitsbegriffen. Von Panikattacken bis hin zu schwierigen Trennungen sind alle emotionalen Situationen vertreten.

Softcore

Den Softcore-Lifestyle zu leben, bedeutet stolz auf die eigenen Gefühle und Verwundbarkeit sein. Die Ästhetik aus pastellfarbenen Illustrationen vermittelt die Botschaft: „Trete ein in die schamfreie Zone. Wir sind mind-positive, also bleib soft, liebe dich. Vergiss‘ nie: Du musst nicht perfekt sein, deine Krankheit ist nicht deine Schuld.“

Chaos Magic

Im Spannungsfeld von Natur, Social Media und kosmischen Welten beschreibt Chaos Magic urbane Spiritualität. Im Jahr 2019 werden Meditation und Kräuter-Bündel liebevoll neben Tarotkarten arrangiert. Doch dieser Aspekt des Sick Stylesbereichert den stressigen Alltag auch mit ganzheitlichen Perspektiven und bringt die Teilnehmenden wieder näher zu den essenziellen Dingen des Lebens.

Xan-Culture

Hier zeigt sich flashig daherkommender Galgenhumor in provokanter Ästhetik, die an Halluzinationen erinnert. Die tripähnliche Visualität dominiert zurzeit viele Depressions-Memes und stammt aus der Drogenkonsumentenszene: Lean, eigentlich ein Hustensaft, ist eine populäre Lifestyle-Droge. Wie Xanax, das ursprünglich bei Angststörungen verschrieben wurde, hat auch Lean eine stark betäubende Wirkung. Beide Drogen sind ein wichtiges Konsumobjekt des Sick Styles, können allerdings schnell abhängig machen.

Eine Karte der Sick Styles

Neue Realitäten psychischer Gesundheit

Die Studie zu Sick Style auf der Basis von Feld vorgefundenen Selbstbeschreibungen dokumentieren nicht nur unsere veränderte Selbstwahrnehmung, sondern auch den zunehmend komplexen Prozess der Identitätsbildung. Depressionsbedingte Störungen haben einen historischen Höhepunkt erreicht – es müssen neue Wege und Zugänge gefunden werden, um die Realität psychischer Probleme, emotionaler Themen und Krisensituationen zu verstehen. Doch woher kommt unsere Faszination mit dem öffentlichen Leiden und was unterscheidet den aktuellen von vergangenen Trends? Der nächste Artikel wird sich ganz um die Kontextualisierung des Sick Styles in den Megatrends Health und digitaler Wandel drehen.

Die Studie

Der Hintergrund

Um den Trend und die Akteure des Sick Styles aufzuschlüsseln, hat unsere Autorin Angel Schmocker an der Zürcher Hochschule der Künste zuerst im Rahmen ihrer Masterarbeit und anschließend in einem aufbauenden Forschungsprojekt auf Instagram und Youtube design-ethnographisch geforscht.

Virtuelle Feldforschung

Das Forschungsfeld des Sick Style ist in erster Linie virtuell: Digitale Kommunikationsstrategien werden basierend auf Selfies und native terms, aussagekräftigen Instagramposts und Transkripten von Youtube-Livestreams identifiziert. Das in der Online-Ethnographie gewonnene Datenmaterial wird ergänzt von medienanthropologisch kategorisierten Bildanalysen.

Designethnographie als Hybrid

Als hybride Methode nutzt Design-Ethnographie ergänzend strategisch angewandte soziologische und ethnographische Methoden für die Sammlung und Auswertung von Felddaten. Um die Feldforschung nicht nur auf Social Media-Daten aufzubauen, wird ebenfalls mit Fokusgruppen und Workshops, Group-Chats und Video-Talks mit Peers und Betroffenen ebenso wie mit einem interdisziplinären Expertenteam zusammengearbeitet.

 

 

Autorin: Angel

Angel lebt und arbeitet als selbständige Trendforscherin in Zürich. Nach ihrem Masterabschluss an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) 2018 forscht sie im Rahmen eines Forschungsprojektes als Stipendiatin des Instituts für Designforschung und wissenschaftliche Assistentin zum Sick Style. Daneben führt sie Interviews und Workshops durch und berät rund um Mental Health, Digitalisierung und design-ethnographische Forschung.

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