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Emmelie Althaus
Research & Strategie
02.08.2022 | Lesezeit: 5 Minuten

CHANGING CULTURES MAGAZIN > TRENDS > Einsamkeit & die Fähigkeit zu Scheitern

Über Einsamkeit & die Fähigkeit zu Scheitern

Ideale wie Selbstverwirklichung und Wettbewerbsfähigkeit sind mögliche Treiber einer Millenial Loneliness. Deshalb sollte beim Reden über Einsamkeit auch das Scheitern enttabuisiert werden.

 

WORÜBER WIR SPRECHEN, WENN ES UM EINSAMKEIT GEHT

Über Einsamkeit ist in zahlreichen Zeitungen, Podcasts, Musik und sozialen Medien aktuell allerlei zu hören und zu lesen. Titel wie „Allein“ (Daniel Schreiber, 2021) und „Die neue Einsamkeit“ (Diana Kinnert, 2021) stehen auf der Bestsellerliste. Warum ist das so? Sind immer mehr Menschen einsam? Oder trifft das Thema in Zeiten von Kontaktbeschränkungen einfach einen akut schmerzenden Zahn der Zeit?

Eine einfache Antwort gibt es darauf nicht. Einsamkeit kann aus sehr vielen unterschiedlichen Gründen empfunden werden und Menschen in sehr vielen verschiedenen Lebenslagen betreffen. Sie tritt auf, wenn man ein schmerzhaftes Defizit an sozialen Beziehungen spürt, sei es quantitativ in Bezug auf die persönliche Netzwerkgröße oder qualitativ, wenn es an Intimität und Nähe zu anderen fehlt. Einsamkeit ist damit immer etwas Negatives, Unfreiwilliges. Es ist ein Mangelsignal, das wie Hunger zum Menschsein dazu gehört und ist damit auch vom Alleinsein (kann selbst gewählt sein und als Genuss empfunden werden) und von sozialer Isolation (die objektiv messbar geringe Zahl sozialer Kontakte) zu unterscheiden.

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MILLENNIAL LONELINESS

Obwohl in regelmäßigen Abständen gern von einem Anstieg dieses Mangels berichtet wird, lässt sich eine tatsächliche Zunahme von Einsamkeit in der Gesamtbevölkerung – zumindest im Zeitraum vor der Pandemie – in Zahlen kaum belegen. Von einem Trend oder gar einer „Einsamkeits-Epidemie“ kann also nicht unbedingt die Rede sein. Allerdings wird vermehrt sichtbar, dass Einsamkeit nicht nur im hohen Alter eine Rolle spielt, sondern auch schon im jungen Erwachsenenalter von 18 bis 39 Jahren.

Diese Betroffenheit junger Erwachsener lässt aufhorchen: Der NDR berichtet im Kulturjournal von der „einsamen Generation“, Deutschlandfunk Nova titelt einen Beitrag mit „Twentysomethings – gemeinsam einsam“. Inzwischen gibt es sogar den Ausdruck „Millennial Loneliness“.

WAS MACHT EINSAMKEIT ZUM THEMA UNSERER ZEIT?

Die Gründe für das Empfinden von Einsamkeit sind vielfältig. Es können individuelle, biografische Gründe sein, wie Krankheit, ein Umzug oder der Verlust einer nahestehenden Person. Es kann die Abgeschiedenheit auf dem Land, die Anonymität der Großstadt sein oder Immobilität und Isolation im hohen Alter. Es kann aber auch der Vergleich zu anderen sein und das Gefühl nicht mit anderen mithalten zu können oder der Eindruck nicht wahrgenommen zu werden, weil jede und jeder in erster Linie auf sich selbst fokussiert ist. Besonders der letzte Aspekt ist in Bezug auf jüngere Generationen interessant. Was ist dran an diesem Eindruck?

Hartmut Rosa und Andreas Reckwitz liefern mit ihren soziologischen Deutungsversuchen der Gegenwart, die sie in westlichen Gesellschaften als „Spätmoderne“ bezeichnen, eine mögliche Erklärung: Globalisierung, Digitalisierung und maximale Liberalisierung haben ihnen zufolge zu neuen Freiheiten und einem enormen zivilisatorischen Fortschritt geführt, andererseits aber auch zu einer ökologisch belastenden Deregulierung der Wirtschaft und zu hoher Eigenverantwortung für den Einzelnen. In der Spätmoderne entscheiden nunmehr individuelle Leistungskriterien darüber, wie Individuen ihr Leben führen können. Der Beruf, soziale Beziehungen und Freizeitaktivitäten folgen dem Ziel der Selbstverwirklichung. Die Gestaltung des Alltags und der Biografie sind damit zu einer ambitionierten Herausforderung geworden, die nicht alle gleichermaßen erfüllen können. Gleichzeitig werden mit der Steigerungslogik der Spätmoderne Wettbewerb und Konkurrenz zu Strukturmerkmalen der Zeit, wenn Menschen – um nicht zurückzufallen – den Druck verspüren, sich selbst und andere immer wieder zu übertreffen. Der Angst, abgehängt zu werden, wird dann häufig mit Flexibilität begegnet.

Folgt man diesen Theorien, bietet sich nun möglicherweise eine Erklärung für die „Millenial Loneliness“, sollte es diese tatsächlich geben. Um mit den Dynamiken der Zeit mithalten zu können, scheint der Fokus auf das eigene Selbst zur Notwendigkeit geworden zu sein. Und je mehr sich auf sich selbst konzentriert wird, desto herausfordernder wird das soziale Miteinander. Zusätzlich erschwert Flexibilität das Aufrechterhalten stabiler sozialer Beziehungen, wenn häufige Job- und Ortswechsel der Preis von Selbstverwirklichung und Wettbewerbsfähigkeit sind.

 

"Die spätmoderne Kultur der erfolgreichen und performativen Selbstverwirklichung ist eine äußerst ambitionierte Kultur des Selbst. Von diesem wird Höchstes erwartet und zugleich wünscht es von sich und für sich Höchstes.“

–– Andreas Reckwitz ––

 

MEHR MUT ZUM SCHEITERN

In dieser spätmodernen, ambitionierten Welt des Wettbewerbs und Wachstums sehen Reckwitz und Rosa ein hohes Risiko zu scheitern. Hohe Erwartungen an das eigene Leben können leicht enttäuscht werden, angestrebte Ideale werden oft nicht erreicht. Zugleich fehlt es an kulturellen Modellen und Narrativen, die Trost bieten könnten. An Haltungen, Praktiken und Instanzen, die das Scheitern verzeihen und dabei helfen könnten, ein „gut genug“ zu formulieren. Solange das Scheitern, solange Brüche und Widersprüche in der eigenen Biografie tabuisiert werden, kann auch die Angst davor nicht geringer werden. Eine Angst, die einer Erweiterung des Fokus‘ von sich selbst auch auf andere im Wege steht.

 

"Es hat den Anschein, als fürchteten spätmoderne Subjekte […] vielmehr ihr eigenes „Versagen, Ungenügen und Zurückbleiben; ihr „Ausbrennen“, ihr Dicksein oder ihr alt, einsam oder unattraktiv Werden, das sie selbst zu verantworten haben.“

–– Hartmut Rosa ––

 

Wenn es nun das ist, was eine Millenial Loneliness begründet, dann sollten wir vielleicht nicht nur Einsamkeit enttabuisieren, sondern auch öfter und offener über das Scheitern sprechen. Vielleicht sollten wir mehr Mut aufbringen, ineffizient zu sein, uns nicht in jedem Bereich selbst verwirklichen zu wollen und tolerant mit eigenen Fehlbarkeiten und denen anderer umzugehen. Im Grunde lassen sich Erfahrungen des Scheiterns, des nicht Erreichens von angestrebten Idealen, möglicherweise sogar als etwas betrachten, was Menschen miteinander eint, weil alle diese Erfahrungen in ihrem Leben früher oder später machen. Hier verbirgt sich auch ein nicht unerhebliches Potenzial für Empathie, Verständnis und Solidarität – Mittel, die auch bei Einsamkeit ganz gut helfen sollen.

 

 


Autorin: Emmelie Althaus

Emmelie studierte Empirische Kulturwissenschaft, Kunstgeschichte und Transformation Design in Tübingen und Braunschweig. Ihr Blick richtet sich darauf, im Alltäglichen nichts für selbstverständlich zu nehmen und scheinbar gegebene Objekte oder menschliche Verhaltensweisen daraufhin zu befragen, woher sie kommen, wozu sie zukünftig führen könnten und welche Alternativen möglicherweise denkbar sind.

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