#CODES & NARRATIVE

Hans Rusinek
Transformationsforscher
30.08.2022 | Lesezeit: 6 Minuten

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A Digital Mind.

„Shop til you drop“ hieß es noch in den hedonistischen Neunzigern. Heute fühlen sich gerade junge Menschen vom Überangebot an Waren oft schon vor dem Kauf erschlagen. Was unbegrenzte Konsummöglichkeiten mit Food-Subkulturen, Immanuel Kant und gesellschaftlicher Utopie zu tun haben, erklärt STURM und DRANG Stratege Hans Rusinek.

„Ich mache es mir nicht leicht, wenn es um Ernährung geht”, sagt Marie und blickt entschlossen aus dem Fenster ihrer WG-Küche. „Obwohl letztens – ziemlich betrunken allerdings – bin ich auf dem Heimweg doch bei einem Döner schwach geworden”. Sie schaut etwas geknickt.

Wohlgemerkt: Hier spricht nicht eine orthodoxe Jüdin, die sich einer Schweinehaxen-Orgie hingegeben hat oder eine Laktose-Intolerante nach dem Milkshake-Exzess. Nein, Marie ist eine säkulare, gesunde Mittzwanzigerin aus Köln, der die Welt mit all ihren (Konsum-)Möglichkeiten sperrangelweit offensteht. Doch immer ist die Rede von „Regeln”, einem „inneren Kampf” und “Lebensphilosophie”, wenn sie erklärt, dass sie es eben vorzieht, sich vegetarisch, bio oder vegan zu ernähren.

Selbstverständlich stecken hinter den aufwändigen und routinierten Ernährungskontrollen ihrer Generation, der sogenannten Generation Y, die Themen Gesundheit und Nachhaltigkeit – aber davon konkret spricht Marie kaum.

Strikte Regeln im Konsumüberfluss

„No, you Kant!“ © Liz Mc

Auch Tierliebe erwähnt Marie nicht. Ihr eigentlicher Treiber ist ein anderer: das Bedürfnis, eine unbegrenzte Fülle an Auswahlmöglichkeiten gegen ein striktes Regelwerk einzutauschen. Doch warum sollte man so etwas wollen?

Erklären kann uns dies ein ebenfalls sehr regelverliebter Mensch: Der Philosoph Immanuel Kant betonte schon vor über 200 Jahren den wichtigen Unterschied zwischen positiver Freiheit und negativer Freiheit.

Positive Freiheit ist “Freiheit zu”. Die Freiheit zum Kauf und Verzehr von zwölf Cheeseburgern; die Freiheit sich allen Konsummöglichkeiten hinzugeben, bis der letzte Dönerladen schließt und der letzte Foodora-Fahrer vom Rad gefallen ist. Eine Form der Freiheit, über die man in unserer Welt keine Vorträge zu halten braucht. Vorausgesetzt, die Kreditkarte spielt mit.

Doch dann gibt es eben noch die zweite Seite, die negative Freiheit: „frei von“ – äußeren Einflüssen, Trieben und Lüsten, Zufällen und Umständen. Es ist die Freiheit, eben nicht das Naheliegendste und Triebhaft-Geilste zu tun, obwohl es möglich und vielleicht auch ziemlich verlockend ist. Sondern das zu tun, was die innere Stimme uns sagt.

Sich selbst Grenzen setzen

Dass wir in unserer Konsumwelt die positive Freiheit sehr stark propagieren, („Hast du dir das neue Handy schon geholt?“), macht es für die negative Freiheit, sich diesen Gelüsten nicht hinzugeben, ziemlich schwer.

Dabei war für Kant die negative Freiheit die Voraussetzung für die positive. Wie wollen wir denn eine Auswahl treffen, wenn wir uns keine Auswahlkriterien setzen? Das, was wir dann Freiheit nennen, ist letztendlich doch die absolute Unfreiheit durch das Diktat der Triebe und Gelüste. Was so schlimm ist an Trieben und Lust? Solange wir sie nicht reflektieren, sind wir ihnen ausgeliefert. Schön, wenn sie ohnehin zu dem passen, was wir auch wollen (zum Beispiel in der Liebe), unschön, wenn sie eigentlich gegen unseren Willen gehen, wenn sie uns oder unserer Umwelt schaden oder sie einfach vollkommen unnötig sind.

Wirkliche Freiheit kann nur durch harte Arbeit erworben werden, sagt der israelische Psychologe Carlo Sprenger dazu. Will ich das wirklich? Passt es zu meinen Idealen? Das Modewort Achtsamkeit darf hier nicht fehlen. Interessanterweise – doch das nur am Rande – ist in der muslimischen Welt dieses Konzept der negativen Freiheit viel besser konserviert.

Wenn alles erlaubt ist, stell Verbote auf!

Zurück in die Gegenwart von Maries Kölner WG: Vielleicht hat die Generation Y mit ihren Ernährungsregeln eine Intuition für diese zwei Gesichter der Freiheit. Man kann es zwanghaft nennen, nur bestimmte Bio-Bananen zu essen oder (fast) niemals dem Döner zu frönen. „Aber es ist wenigstens mein Zwang”, würde vermutlich Marie antworten.

Bist du mehr der Za’atar oder Curry-Typ? © Colton Chorpenning

Denn vielleicht kann die positive Freiheit ihre Versprechen alleine doch nicht ganz einhalten. Menschen wie Marie fühlen sich inmitten des Strudels der Wahlmöglichkeiten oft doch verloren und als Spielball der Triebe und Verführungen. Werbung und grelle Foodora-Fahrer allerorts. Oft erleben sie einen Konsum-Kater und fragen sich: War das wirklich nötig?

Intuitiv fehlt Marie dabei die Freiheit des Geistes, eben die negative Freiheit, die sagt: Das ist, was ich will und nicht, wohin es mich zieht oder was ich wollen soll. Sie ist nicht die einzige mit diesem Bedürfnis: Beweismaterial findet sich nicht nur in Yoga-Apps und Mindfulness-Therapien, sondern auch in Symptomen wie Burnout-Quoten und Neuverschuldungsraten.

Konsum ist Selbstgestaltung

Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet die Generation Y plötzlich Verbote aufstellt. Wie keine Generation zuvor ist sie in einer Welt aufgewachsen, in der alles erlaubt ist. Und so folgt ihr Konsum oft einem Konzept: als reflektierter Selbstentwurf, als Mittel, um sich Orte der Freiheit zu schaffen. Es ist ein Ausweg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit der Tütensuppen und All-You-Can-Eat-Buffets.

Oft wird dann Werbung durch Bildung ersetzt. Denn, wo Werbung die Menschen dazu ermuntert, neue Befriedigungen für alte Triebe zu entdecken, ist Bildung die Ermunterung Begierden kritisch zu hinterfragen, sie einzudämmen oder sie zumindest zu kultivieren. Für Menschen wie Marie ist daher das Lesen von Nachhaltigkeits-Magazinen, der Austausch in Foren oder im Freundeskreis eine Quelle für Einkaufstipps und ein Weg, durch Bildung ihren Konsum umzugestalten und zu konzeptionieren.

Vom Consumer zum Prosumer

Stop! Allerhöchste Zeit für den Einwand, dass es sich bei Menschen wie Marie doch nur um eine urbane akademische Splittergruppe handelt. Natürlich kann dieser regeltreue kultivierte Konsum auch ein Abgrenzungs- und Schichtmerkmal sein: „Nur verstandenes Konsumieren zeigt, wer andere sind, und anderen und uns selbst, wer wir sind und worin wir uns von anderen unterscheiden”, schreibt Ernst Mohr in der Ökonomie des Geschmacks.

Doch für Mohr ist solch ein gestaltender Konsum keine plumpe Abgrenzung, sondern wichtig, um eine Gesellschaft zum Austausch von Idealen zu bringen. Es geht also nicht um moralische Überlegenheit, so wie ein abschätziges Zeigen auf „euch Triebgesteuerte da!“ Dieser Vorwurf greift zu kurz. Auch das Argument, dass Menschen wie Marie ein Luxusphänomen sind: Bei ihr geht es ja zu einem großen Teil um Verzicht und Verzicht ist naturgemäß preiswert. Und es geht darum, verschiedene Selbstentwürfe miteinander zum Austausch zu bringen statt abzugrenzen. Es geht auch um mehr als Fleischkonsum: globale Lieferketten, das Interesse und die Offenheit gegenüber anderen Kulturen, auch um Experimente, die globale Nahrungsprobleme lösen könnten, wie das Verspeisen von Insekten.

Ist der Konsum der Zukunft slow? © Sabri Tuzcu

Für ein neues Konsum-Verständnis

Wenn es stimmt, dass sich in Konsum und Popkultur Trends als Erstes abzeichnen, wie lässt sich das neue Konsumverhalten in Richtung Politik und Gesellschaft weiterdenken? Zunächst ändert sich das Bild des Konsums: Weg vom gehetzten Menschen, der sich im Kaufrausch durch Shoppingcenter kämpft, der Kuriere mit unnötigen Lieferungen und unzähligen Retouren durch die Straßen scheucht.

Bewusster Konsum kann auch eine partizipative und befreiende Bedeutung erlangen. Ich bin, was ich konsumiere (nicht notwendigerweise kaufe). Richtig verstandener Konsum kann so neue soziale Konventionen aufstellen und andere in der Vergangenheit verschwinden lassen und jeder kann ein Teil davon sein. Wer erinnert sich noch an verqualmte Arztpraxen oder daran, dass es für Vegetarier grundsätzlich nur Pommes gab?

Richtig! Ich auch nicht.

 

Dieser Text erschien am 14. Mai 2017 in der Langversion im transform Magazin unter dem Titel Diktierte Freiheit: Immanuel Kant und die Bio-Banane.

Autor: Hans Rusinek

Hans lernte die im Artikel erwähnte Marie auf einer ethnographischen Feldforschungsreise kennen. An vielen Stellen, wenn auch nicht in dieser Konsequenz, erkannte er sein eigenes Einkaufsverhalten wieder. Hans Rusinek beschäftigt sich mit Transformation der Wirtschaft und Zukunft der Arbeit als Forscher, Berater und Autor. Er promoviert in St. Gallen am Institut für Wirtschaftsethik zu Sinn und Arbeit. Als Berater hilft er Organisationen ihren größeren Sinn, ihren Purpose, zu finden und zu leben. Als Autor ist er einer der Chefredakteure von Transform, einem Printmagazin, das sich mit Fragen nach Lebensglück, Nachhaltigkeit und gesellschaftlichem Wandel beschäftigt und Träger des Förderpreises für Wirtschaftspublizistik der Ludwig-Erhard-Stiftung.

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