#CODES & NARRATIVE

Europa Bendig
Managing Partner STURMundDRANG
22.08.2023 | Lesezeit: 6 Minuten

CHANGING CULTURES MAGAZIN > CODES & NARRATIVE > Zwischen Tabu & Chance: Kultur der Scham

Zwischen Tabu und Chance: Die Kultur der Scham

Wer kennt das nicht? Eine Situation sorgt dafür, dass man rot wird, ins Stottern gerät oder schwitzt. Schamgefühle sind Affekte – sie sind nicht steuerbar und gehören zu den stärksten und intimsten menschlichen Regungen. Und da Scham sozialisierungs- und kulturbedingt ist, verändert sich das Gefühl mit den Normen der Gesellschaft und mit den Erwartungen anderer, wie auch die aktuelle Debatte des Oben-ohne-Badens zeigt. So kann sich das Schamgefühl mit der Zeit wandeln und mitunter auch in Wut oder Stolz umschlagen. Wir erklären, was dahintersteckt.

Themen: Verhaltensänderung | Kulturwandel | Gesellschaft

 

SCHAM ALS KULTURPRODUKT

Scham ist ein individuelles und zutiefst menschliches Gefühl. Nur der Mensch ist in der Lage, sich vorzustellen, von anderen bewertet zu werden und sich in die Sichtweise anderer hineinzuversetzen. Scham tritt somit besonders dann zutage, wenn das Individuum diskreditiert wird und seine soziale Identität gefährdet sieht. Diese Furcht, sich selbst zu verlieren, oder (wenigstens) das Image in der Gesellschaft einzubüßen, lässt uns die Schamesröte ins Gesicht schießen.

Schamgefühle sind eine Art Schutzmechanismus für unsere Sozialbeziehungen. Um sie nicht zu verletzen, verhalten wir uns in der Regel sozialkonform. So stabilisiert Scham das soziale Gefüge und wirkt wie ein Seismograf, der anzeigt, wenn etwas nicht stimmt oder eine Grenze überschritten ist. Scham reguliert unter anderem, inwieweit wir den Normen und Erwartungen der Familie, Gruppe, Gesellschaft gerecht werden oder inwieweit wir dem eigenen Gewissen folgen.

Aus soziologischer Sicht sind für das Schamgefühl somit nicht nur wir selbst, sondern auch die sozialen und kulturellen Erwartungen an uns verantwortlich. Eng mit Identität und Anerkennung verknüpft, ist es ein soziokulturelles Phänomen, das von internalisierten kulturellen Glaubenssätzen und Tabus lebt und damit hochaktuell ist.

SCHAM WIRD HEUTE NEU VERHANDELT

TABUS UND BIASES

Alter, Tod, psychische Erkrankungen, soziale & kulturelle Herkunft, Sexualität, Menstruation, Menopause viele Bereiche unseres Lebens sind heute noch mit Tabus und Verhaltensverzerrungen (Biases) belegt. Sie zu brechen, ist teilweise hochgradig mit Scham besetzt, aber sie zu umgehen, kann ebenfalls zu seelischen und gesundheitlichen Nachteilen führen. So versagen sich Menschen aus Furcht vor Scham beispielsweise medizinischer Hilfe oder sprechen nicht über erlebten Missbrauch, Alkoholismus, Arbeitslosigkeit, Schönheitsideale oder Probleme mit der (mentalen) Gesundheit. Scham kann uns somit lähmen, sie kann aber auch in Wut oder Stolz umschlagen.

 

AUS SCHAM WIRD STOLZ ODER WUT

Die Normen einer Gesellschaft verändern sich und folglich auch unser Sensor für die Erwartungen anderer. In unserer vernetzten und dadurch beschleunigten Kultur werden viele essenzielle und kulturstiftende Lebensbereiche, Praktiken, Glaubenssätze und Tabus immer schneller neu verhandelt: z.B. Geschlechterrollen, Alter, Gesundheit, Ästhetik und Beziehungen. Scham kann innerhalb von Monaten in Stolz oder Wut umschlagen, wenn der soziale Diskurs ein Thema aufgreift und neu betrachtet. Beispiele aus den letzten 5-10 Jahren gibt es sehr viele, wie: body-shaming oder body-positivity/ von gay shame oder gay pride/ von period shame oder period pride… schnell entstehen neue in-group/out-group Phänomene, die durch die Digitalisierung und Kommunikation in sozialen Medien noch schneller vorangetrieben werden.

"Scham kann uns lähmen, sie kann
aber auch in Wut oder Stolz umschlagen."

 

 

CULTURAL SHIFTS: KOMMUNIKATION

Tabus werden heute neu erzählt und codiert: In sozialen Medien fallen Intimitätsgrenzen, Omnichannel Services bieten 24/7 Beratung bei Tabuthemen, wie z.B. Haut oder Sexualität und Unternehmen nehmen klare Haltungen ein, indem sie Betroffene zu Wort kommen lassen. Jedes Tabu erzeugt Spannungen, und so müssen Marken sehr vorsichtig durch diese kulturelle Gemengelage von Narrativen navigieren, bis eine Normalisierung eintritt und die breite Gesellschaft den neuen Standard akzeptiert.

 

1. PRIVATE-PUBLIC BLUR

Ästhetische Tabubrüche
Scheinbar fallen Intimitätsgrenzen und private Themen und Bilder werden mit anderen über soziale Kanäle geteilt. Dadurch werden Tabus aufgeweicht – doch auch das Teilen ist eine Kunst: Idealerweise wird dem Betrachtenden der Spiegel vorgehalten, so dass man ohne den erhobenen Zeigefinger selber begreift. Auch eine ästhetische Neuerzählung und -codierung von Tabus ermöglichen eine Normalisierung.

 

2. PHYGITAL WORLDS

Omnichannel Services
Die neue Normalität: alles ist 24/7, jede:r erreichbar und doch intim. Vor allem bei Tabuthemen im Bereich Haut, aber auch Sexualität gibt es mittlerweile sehr erfolgreiche Start-ups, die den Gang zum Arzt ersetzen und eine neue, scheinbar intimere, geschütztere Kommunikation mit Fachleuten und peers vom Sofa aus ermöglichen.

 

3. PURPOSE

Unternehmenshaltung
Wo Angebote eine kulturelle Aussage treffen – vor allem in tabuisierten Bereichen, muss das Unternehmen eine klare Haltung einnehmen. Und dazu gehört: nicht über oder mit Betroffenen, sondern als selbst Betroffene:r agieren. Das ist nur dann glaubwürdig, wenn die Unternehmer selber eine ähnliche Story durchlaufen haben und darüber berichten (Beispiel: The Female Company, Roman).

CULTURAL SHIFTS: WOMEN’S HEALTH

Besonders im Bereich der Frauengesundheit ändern sich kulturelle Codes: Von „Evas Strafe“ zur natürlichen, ästhetischen Präsentation des weiblichen Zyklus, von Hygiene & Pflicht zu Genuss & Intim-Wellness, vom Ende der Weiblichkeit zur Zelebrierung eines neuen Lebensabschnittes in der Menopause.

 

1. BODY-POSITIVE FEMININITY

Natürliche, ästhetische Präsentation von weiblichen Zyklen.
Wir sehen einen klaren shift von “Evas Strafe” zu einer positiven Belegung der Zyklen, einem natürlichen Umgang mit allen Facetten und Lebensphasen der Weiblichkeit und einer Hinwendung zu natürlichen, weniger invasiven Produkten.

 

2. PLEASURABLE (INTIMATE) SELF-CARE

Von Hygiene und Pflicht zu Genuss und Intim-Wellness.
Weibliche Lust an sich war immer tabuisiert. In den letzten Jahren wird Intimpflege aber immer stärker auch mit Sinnlichkeit und Sexualität in Verbindung gebracht und eine neue, lustvolle Beschäftigung mit dem eigenen Intimbereich wird mit sinnlichen Bildern beworben.

 

3. FEMININITY BEYOND AGE

Weiblichkeit endet nicht mit der Menopause.
Die Generation X ist eine Generation der Macherinnen, und definitiv keine leise Generation. Nun kommt sie in die Menopause und möchte ihre Dynamik, Mobilität und Sexualität nicht gegen Inkontinenz, Scheidentrockenheit und Depressionen eintauschen. Hier sind neue Produkte, vor allem aber auch inklusive Narrative gefordert.

ZWISCHEN TABU UND CHANCE

ERST SOLIDARITÄT MACHT VERÄNDERUNG MÖGLICH

Diese cultural shifts zeigen den Wunsch nach fortschrittlichem, fluidem Wandel in unserer Gesellschaft. Dennoch müssen nach wie vor viele Hürden überwunden werden, wie der Feminismus, die Schwulen-und-Lesben-Bewegung und Gleichberechtigungsbestrebungen zeigen. Sie alle haben sich sehr stark gegen Herabwürdigungen gewehrt, die exakt auf das Schamempfinden zielten – und noch immer zielen. Die Würde eines Menschen zu verhöhnen und ihm das Gefühl zu geben, minderwertig zu sein, ist die perfide, aber ungeheuer erfolgreiche Gefühlspolitik einer privilegierten Mehrheit und Machteliten. Deswegen konnte die Befreiung von Schamängsten in der Geschichte immer nur dann gelingen, wenn große Gruppen von Menschen sich von ihrer emotionalen Isolation durch Solidarität befreiten.

Festzustellen, dass es vielen Menschen in gleicher Lage genauso geht, wie einem selbst, führt überhaupt erst zu den gesellschaftlichen Prozessen der Veränderung, von deren Ergebnissen wir heute so selbstverständlich profitieren. So lässt sich der Beschämung manchmal auch etwas Gutes abgewinnen, indem sie wichtige neue Normen hervorbringt. Trotzdem bleibt Scham ein zwiespältiges Gefühl. Denn nicht jede Norm, zu deren Einhaltung sie uns motiviert, ist legitim.

 

Mehr zum Thema in dem Artikel "Von Körperscham zu Period Pride. Eine visuelle Analyse" von Jennifer Jordan und Karolina Braun.

Bildreferenzen: Hide | Shame | Pride by jacoblund | Skin | Einhorn by Verena Brandt

 

 

Autorin: Europa Bendig

Europa Bendig berät seit 20 Jahren internationale Unternehmen vor allem in den Bereichen Luxus, Health, Services, Beauty, Living und Social Business sowie NGOs bei Innovationsprozessen. Ihr Spezialgebiet ist die Erforschung von kulturellen Codes und Narrativen, die Marken und Portfolios kulturelle Relevanz geben und Kundenbindung schaffen.

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