#PROTOPIA

Stefan Baumann
Managing Partner STURMundDRANG
22.08.2023 | Lesezeit: 9 Minuten

CHANGING CULTURES MAGAZIN > PROTOPIA > CHANGING NARRATIVES: Future of Work w/ Raphael Gielgen

Changing Narratives: Interview mit Raphael Gielgen

Wie ändern sich unsere Erzählungen über unsere Arbeitsplatzkultur? Eine Inventur des Bedeutungswandels auf dem Weg zu einer hybriden Arbeitskultur in sechs Narrativen. Im Gespräch mit Raphael Gielgen, Future of Work Trendscout bei Vitra.

Die letzten zwei Jahre haben Spuren hinterlassen. Nicht nur bei den Unternehmen, sondern auch bei der Art und Weise, wie die Mitarbeitenden den Stellenwert ihrer Arbeit und Integration vom Arbeits- und Privatleben sehen. Was hat das für Auswirkungen und Veränderungen losgetreten? Welches Mindset haben die Arbeitgebenden? Welche neuen Narrative setzen sich in der “anytime – anywhere culture” wohl durch?

 

Raphael Gielgen über die Zukunft der Arbeitswelt

Für das Kartieren des Bedeutungswandels beobachten wir bei STURMundDRANG die fundamentalen Narrative, die die Kulturbildung leiten und die Veränderungszugkräfte eines Kulturwandels markieren. In der Serie „Changing Narratives“ möchte ich mit „Thought Leadern“ über deren Beobachtungen zu sich ändernden Narrativen sprechen und aufkommende Narrative sichten. Kann es für die „Changing Narratives in der Arbeitplatzkultur“ einen besseren ersten Gesprächspartner geben als Vitra Trendscout Raphael Gielgen? Wohl kaum, denn Raphael inspiriert die Vorstellung von der „Arbeitswelt von Morgen“ seit Jahren mit seinem fundierten Panoramablick. Wir diskutierten 6 Narrative, die in den Führungsetagen über Jahrzehnte als unumstößliche Glaubensätze gewachsen sind und in der neuen Arbeitsplatzkultur zur Disposition stehen:

NARRATIV 1

Von „Office ist der erste Arbeitsplatz“ zu „Remote First“

SuD: Laut einer Bitkom Studie* aus dem Jahr 2022 arbeiten 50% der Beschäftigten derzeit ganz oder teilweise im Homeoffice, 71% wollen sogar noch mehr mobiles Arbeiten. Durch unsere Interviews mit Führungskräften haben wir oft feststellen können, dass es durchaus noch viele Zweifel und Vertrauensdefizite gibt. Folglich wird auch der Druck seitens des Top Leaderships wieder ins Büro zurückzukommen stärker – wegen der neuen Arbeiterlosigkeit jedoch nicht öffentlich gemacht. Kann sich der Wandel zu ‚remote first‘-Arbeitsstrategien trotzdem durchsetzen?

Raphael Gielgen: Ich gehe davon aus, dass der Imperativ dieser neuen Zeit ‚remote first‘ sein wird. Das bedeutet allerdings nicht, dass es keinen Ort der physischen Begegnungen mehr geben wird. Wenn Firmen also in diesen Zeiten der Veränderung zukünftig bestehen wollen, brauchen sie Elastizität. Und die würde ‚remote first‘ bieten.

 

SuD: Können virtuelle Räume, wie das Metaverse einen neuen dritten Arbeitsplatz aufbauen, in der die beiden Welten „Office“ und „Home“ zusammenkommen?

RG: Wenn wir die Geschäfts- und Kulturtransformation getrennt beobachten, sind für die Geschäftstransformation diese immersiven, virtuellen Räume unabdingbar. Wir kommunizieren und interagieren nicht mehr auf der Ebene von Excel, PPT und Teams. Es wird zukünftig darum gehen, viel komplexere Sachverhalten zu verstehen, die man nicht über eine Exceltabelle konsumieren kann. Immersive Erlebnisse oder virtuelle Räume sind dafür erstklassig geeignet. Was man dabei aber nicht oder sehr beschränkt abbilden kann, ist die kulturelle Transformation einer Firma. Wenn man diese beiden Modelle im Kopf voneinander trennt, hilft es das Ganze besser zu verstehen.

 

SuD: Welche Rolle wird dann noch das physische Office in der „remote first“-Arbeitswelt spielen? Braucht es das überhaupt noch?

RG: Ja, die gibt es noch. Ich trenne in meinem neuen Panorama zwischen Extended Realities und Physical Realities. Im Wesentlichen gibt es für mich drei elementare Raumprogramme, die jede Organisation benötigt, die entweder im Physischen oder im Extended Realitätsraum liegen:  

1. Raum für Rituale: Der identitätsstiftende Sozialraum aus Gemeinsamkeiten.
2. Raum für Innovation und Fortschritt: Der Zukunftsraum, in dem das Neue entsteht.
3. Raum für Transformation: Der Lernraum, in dem die Organisation sich weiterentwickelt.

Diese drei Ebenen sollte man gut vor Augen haben und adressieren. Jetzt ist natürlich die Frage, wo kann das Ganze stattfinden? Für den „Raume für Rituale“ braucht man beispielsweise eine Dichte an Menschen, das geht am besten in einem physischen Firmensitz.

 

SuD: Und wie sieht dann die zukünftige Arbeitsplatzumgebung im Homeoffice aus Deiner Studienperspektive aus? Wird es eine Art von „Corporate Arbeitskit“ aus Stuhl, Tisch und Kopfhörer geben?

RG: Jeder nach seiner Fasson. Die Heimarbeitsplätze bleiben Teil der privaten Identität und der privaten Möglichkeiten in den Wohnungen. Alles andere macht für mich keinen Sinn, denn jede/r hat seine/ihre Vorlieben und Verhaltensmuster. Wichtig ist nur eine gute Konnektivität. Alles wird sich komplett auf links drehen, sobald die Magic Leap und Apple VR Systeme in zwei Jahren in den Märkten und auch in der Arbeitswelt etabliert sind. Dann ist das Home oder Mobile Office nur die Eingangsstelle zum virtuellen Arbeitsplatz.

Werbung von Fairphone, wie ein Mann über das Handy springt
NARRATIV 2

Von „Firmen brauchen ein Office, um Kultur aufzubauen“ zu „Kultur entsteht in den Zwischenräumen“

SuD: In CEO-Interviews haben wir herausgefunden, dass sich viele Führungskräfte die Frage stellen, wie man ein Unternehmen remote führen kann. Es ist natürlich nicht leicht, eine Kultur zwischen den ganzen Zoomcalls aufzubauen. Was ist dein Empfinden dazu?

RG: In unserer Generation wurden wir über Gemeinschaften konditioniert. Bei unseren jüngeren Kollegen und Kolleginnen sieht’s da oft schon anders aus. Die gehen virtuell zum Arzt, treffen sich virtuell mit ihren FreundInnen und schaffen Gemeinschaften mit Menschen, die sie vorher noch nie gesehen haben. Und trotzdem entsteht eine hohe Verbindlichkeit. Ob das dazu beitragen kann, dass Kultur entsteht, schließe ich daher nicht aus. Vielleicht etabliert sich da eine andere Beziehungskompetenz, aus der auch ein Community-Gefühl erwächst.  

 

SuD: In der Microsoft Studie habe ich gelesen, dass eines der größten Fragezeichen für Hybrid-Arbeitende (35%) ist, zu wissen, warum sie in die Firma kommen sollen. Muss schon was Besonderes sein, damit sich der Weg lohnt.

RG: Gibt ja immer weniger Gründe. Ich arbeite schon seit 15 Jahren remote auf dem Land und war am Anfang der einsamste Mensch der Welt. Aber mit der Zeit habe ich gelernt damit umzugehen und meinen Weg gefunden, auch ohne Präsenz präsent zu sein. Alle anderen lernen das jetzt erst. Aber in 3-4 Jahren wird sich da keiner mehr den Kopf zerbrechen, dann werden wir neue Vereinbarungen für uns gefunden haben.

NARRATIV 3

Von „Vertrauen und Beziehung entstehen nicht remote“ zu „eine gemeinsame Mission kennt keine Distanz“

SuD: Aus dem Lockdown heraus haben wir uns an den Zustand gewöhnt, bei dem remote alle Zoomkacheln gleich aussehen und die Identität und Eigenart von Firmen und Führungskräften schwindet. Für Unternehmen wird es immer schwerer in Beziehung zu bleiben. Wie würdest du das einordnen?

RG: Sehr guter Punkt! Aus deiner Betrachtung unterschreibe ich das zu 100% – aber jetzt machen wir den Schritt ins Morgen. Die Frage ist also, was macht die stickiness aus? Dafür braucht man einen Purpose, ein Ziel, das allen Mitarbeitenden klar vor Augen ist und wovon sie fest überzeugt sind. Wenn das nicht gegeben ist, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis das Unternehmen in Schwierigkeiten kommt.

 

SuD: Bekommt das Konzept der Arbeitgebermarke in diesem Zusammenhang eine neue Relevanz? Wie wichtig ist die Arbeitgebermarke als Bindeglied in einem hybriden Arbeitsumfeld?

RG: Die Pandemie hat gezeigt, welche Marken was zu sagen hatten und auch was erzählen konnten. Gute Marken haben ein Versprechen und eine Authentizität. Sie zeigen breite Schultern und bieten in Zeiten der Unsicherheit Anleitung und Orientierung, eine Art Anziehungskraft. Jetzt ist der Scheidepunkt, wo Unternehmen ihrer Marke Bedeutung geben können oder merken, dass sie keine Substanz haben.

Vom „ergonomischen Arbeitsplatz“ zum „transformatorischen Arbeitsplatz“
NARRATIV 4

Vom „arbeitszentrierten, karriereorientierten Leben“ zum „lebenszentrierten Arbeiten“

SuD: Arbeit hat laut Studienlage an Stellenwert verloren. 47% aller weltweit Befragten in der gleichen Microsoft Studie geben an, dass ihr Privat- und Familienleben durch Corona an Stellenwert gewonnen hat gegenüber dem Arbeitsleben. Was passiert mit den Unternehmen, die auf arbeitszentriertes Leben, statt lebenszentriertes Arbeiten, ausgerichtet sind?

RG: Die einen werden es sich durch starke Gewinne leisten können, die Mitarbeitenden mit extrinsischen Privilegien und Benefits einzuwickeln und ihre Erwartungen nach Spitzengehalt und freier Zeit und Ortswahl erfüllen. Und die anderen werden aus meiner Sicht in eine wirtschaftlich schwierige Situation kommen, an Personalmangel leiden und ggf. auch ihre Arbeitsbedingungen anpassen müssen, was Gehalt und Präsenzzeiten betrifft. Die Ungleichheit wird wachsen.

 

SuD: Wird es sich irgendwann wieder in Richtung eines Arbeitgebermarkts ändern?

RG: Ich glaube, es bleibt nicht so komfortabel und entspannt für die Arbeitnehmenden, wie es gerade ist. Es wird sich meiner Ansicht nach normalisieren und eventuell auch hart kippen. Besonders in den großen Industrien wird sich in den nächsten Jahren einiges verändern. Die Technik wird besser, wir haben Rationalisierungs- und Optimierungspotenziale durch Maschinen, Soft- und Hardware, die einiges in Bewegung setzen werden.

NARRATIV 5

Vom „ergonomischen Arbeitsplatz“ zum „transformatorischen Arbeitsplatz“

SuD: Du arbeitest seit vielen Jahren für Vitra, die unter anderem auch für Corporate Offices zuständig sind. Nun weiß man aus den Verhaltenswissenschaften, dass Räume, Möbel und die Umgebung das Verhalten sehr stark beeinflussen. Wie stark wird der zukünftige Arbeitsraum das noch tun?

RG: Total stark! Durchschnittsräume wird es in Zukunft nicht mehr geben. Es ist die Zeit der Narrative. Wo Menschen nicht nur mit dem Medium der Architektur, sondern mit Narrativen Räume erzählen lassen. Auch unsere Vitra-Produkte machen das. Und die Veränderung von Narrativen – das ist ja die Überschrift dieses Interviews – erzeugt Verhaltensänderung. In den Arbeitsräumen der Zukunft wird es also darum gehen, wie stark diese die Kultur (mit-) transformieren können, welche transformative Kraft sie ausüben.

Von „Firmen brauchen ein Office, um Kultur aufzubauen“ zu „Kultur entsteht in den Zwischenräumen“
NARRATIV 6

Vom „Kultur aus Zufall“ zu „Kultur mit Absicht und Richtung“

SuD: Im Remote-Arbeiten hat sich das synchrone Arbeiten von dem asynchronen Arbeiten entkoppelt. Der Energieaufwand alle auf das gleiche Zeitfenster zu bringen, kann enorm sein, gerade über mehrere Kontinente und Zeitzonen. Kann sich das zeitlich versetzte Arbeiten als neue Form des zukünftigen Arbeitens durchsetzen?

RG: Für isoliert Arbeitende ist nur der Annahme- und Abgabetermin relevant. Was dazwischen passiert, ist egal. Wichtig bleibt dabei, dass sich jede/r an die Deadlines hält. Für Arbeit, die gemeinsamen Austausch o.Ä. benötigt, muss eine zeitgleiche Abstimmung gegeben sein. Ich bin dennoch der Ansicht, dass sich das Format von festen Arbeitszeiten auflösen wird. Noch nicht jetzt sofort, aber auf jeden Fall irgendwann – davon bin ich überzeugt. Ich möchte ja auch nicht für eine Firma arbeiten, die mir vorschreibt, wann ich arbeiten muss und wann nicht.

SuD: Also ein Haltungswandel von einer Input- zu einer Impactkultur?

RG: Ganz genau. Und hier kommt es wieder auf das Anliegen an, also den Purpose. Firmen, die das klar für sich gefunden haben, sind hier am Ende die Gewinner. Dann braucht es auch keine Arbeitszeiten oder Vorgaben mehr.

SuD: Und der alte Versuch, das Leben auf den Campus zu holen, um die Arbeit in das Leben zu integrieren?

RG: Ha, schön wär’s! Es ist zwar wichtig das zu tun, aber das reicht alleine nicht aus. Es ist nur ein Teil der Antwort, darauf darf man sich nicht ausruhen.

SuD: Es geht ja auch mittlerweile nicht mehr um eine Work-Life Balance, sondern um eine Work-Life Integration, also wie man die Arbeit zurück ins Leben integrieren kann. Das stellt die Mitarbeitenden aber auch vor einige neue Herausforderungen. Zum Beispiel müssen plötzlich die eigenen Grenzen zwischen Privat- und Arbeitsleben selbstständig gezogen werden, was nicht immer einfach ist.

RG: Stimmt, das erfordert sehr viel Selbstführung und ist überhaupt nicht einfach – eine enorme Herausforderung für alle. Das geht nicht von heute auf morgen, das braucht Zeit und Geduld. Doch leider haben wir verlernt, unterschiedliche Geschwindigkeiten zu akzeptieren.

SuD: Wie lernen wir das wieder?

RG: Ausprobieren und aushalten. Akzeptieren, dass du auch mal keine Antwort hast und etwas nicht sofort funktioniert. Die ability to adapt zu haben.

SuD: Es ist und bleibt ein großes Experimentierfeld. Ich sage immer gerne, wir sind mitten im Liminal Space, der Raum, wo das alte nicht mehr gilt und das Neue noch nicht.

RG: Da bin ich fest von überzeugt, da sind wir gerade mittendrin! Deswegen fühlen wir uns momentan auch alle wie in der Waschtrommel, alles formt sich um. Aber das ist das Leben, wie herrlich!

SuD: Danke Raphael für diesen narrativen Schleudergang in eine neue Zeit der hybriden Arbeitskultur.

Vom „Kultur aus Zufall“ zu „Kultur mit Absicht und Richtung“

Weiterführende Links zum Thema:

*Edelmann Studie Microsoft (2022): Great Expectations: Making Hybrid Work work (30.000 Beschäftigte in 31 Ländern).

Bildreferenzen:

Header: Studio Hürlemann Dancing Office ©Vitra, Foto Dejan Jovanovic
Portrait: Raphael Gielgen by ©Joseph Fox
Homeoffice 1: Pexels
Homeoffice 2: Pexels
Office Floor: Vasyl
Office Vitra: Studio Hürlemann Dancing Office ©Vitra, Foto Dejan Jovanovic
Office Vitra: Wondrous Headquarter ©Vitra, Foto Eduardo Perez

 

 

Autor: Stefan Baumann

Der studierte Wirtschaftspsychologe Stefan Baumann ist strategischer Transformationsforscher für systemische Verhaltensänderungen. Als Gründer der Agentur STURMundDRANG erforscht und entwickelt er mobilisierende und verbindende Narrative für die Evolution von Menschen, Organisationen und Communities. Sein Cultural-Thinking-Ansatz verfolgt eine Praxis, die wirtschaftliche Transformation als einen menschlichen und gesellschaftlichen Haltungs- und Verhaltenswandel versteht. In seinen Projekten hilft er Unternehmen und Marken, die eigene Position, Relevanz und Mission in einem sich ändernden Marktkontext zu erneuern. Als gefragter Speaker und Autor veranschaulicht er in seinen Studien, wie kultureller Wandel ein neues Konsumenten- und Mitarbeiter:innenverhalten hervorbringt.

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