Wer ICH online bin, verändert mich – Avatare und ihre Auswirkungen auf Nutzer
Viele Menschen verbringen einen großen Teil ihres Lebens online. Sie chatten, laden Bilder hoch, schreiben in Foren, organisieren sich in Gruppen oder erforschen Online-Welten. Mittlerweile livestreamen sie auch oder erstellen Memes – kurz: sie tragen etwas dazu bei, dass das Internet von jedem für jeden gemacht wird. Anhand von YouTubern und Influencern wurde die Debatte zur Genüge geführt, doch trifft das eigentlich für jeden Menschen zu. Was ist Authentizität in der digitalen Welt? Sind wir kongruent mit unserer virtuellen Persönlichkeit?
Der Fotograf Roland Barthes nennt das, was sich nicht digital abbilden lässt, die "moralische Textur“: die eigene individuelle Komplexität, das tiefe Innere. Die Technologie tastet die Realität nur mit „kaltem Blick“ ab und bildet sie neu und neutral ab. Wir haben unzählige Möglichkeiten unseren eigenen Stil einzubringen, unser eigenes digitales Abbild zu schaffen und einen individuellen Abdruck in der virtuellen Welt zu hinterlassen. Dort, können wir, losgelöst von unserem Körper und unserer Lebensrealität, sein wie und wer wir wollen. Rechte Trolle nutzen das beispielsweise, um sich hinter der Distanz zu verstecken und Reaktionen zu provozieren. Sie extremisieren ihre Ansichten und spitzen ihr Weltbild in konfrontativen Beiträgen zu. Hierbei geht es nicht nur um die Anonymität des Internets, sondern auch um die Möglichkeit in eine andere Haut zu schlüpfen bzw. eine Rolle zu verkörpern, die durch die Sozialisierung des Individuums in ihrem Umfeld auf diese Art gar nicht im realen Raum bekleidbar wäre.
Die Soziologen Ebert und Piwinger (2015) definieren den Fachausdruck "Impression Management" als „Eindruckssteuerung durch Selbstdarstellung bzw. Steuerung der für die Eindrucksbildung relevanten Informationen“. Diese Steuerung ist im digitalen Raum einer noch viel größeren Kontrolle unterlegen als in der Realität. Die Individualisierung ist so weit fortgeschritten, dass sich jeder zur Personenmarke entwickelt. Eine Formulierung oder ein Foto/Video kann beispielsweise vor der Veröffentlichung mehrfach angepasst sowie Blickwinkel und Informationsgrundlage können – wie wir alle wissen – selbst gewählt werden.
Noch extremer wird die Entfremdung, wenn nicht nur ein Profil geführt wird, sondern tatsächlich eine neue Figur verkörpert wird. Der Avatar, wie man ihn am prominentesten aus Second Life oder World of Warcraft kennt, wird zwar vom User eigentlich „nur“ gesteuert, doch schon bald übertragen sich die Eigenschaften der Entitäten auf einander. Der User erlebt das gesamte „Leben“ des Avatars, er ist als Einziger von Anfang bis zum jetzigen Zeitpunkt dabei und teilt somit den kompletten Erfahrungsschatz des Avatars. Er gibt ihm ein Aussehen, einen Rede-, Kampf-, und Lebensstil. Forscher Nick Yee von der Stanford University fand heraus, dass die Wahl des Aussehens auch Auswirkungen auf das später online gezeigte Verhalten hat. Beispielsweise zeigten sich Nutzer eines auffällig großen Avatars zunehmend unfair bis aggressiv, besonders gegenüber Nutzern mit auffällig kleinem Avatar. Zwei Jahre später forschte Yee erneut, doch begleitete er die User dieses Mal im realen Leben und entdeckte, dass die virtuell antrainierten Verhaltensmuster auch im realen Leben beibehalten wurden. Dieser Effekt ist als Proteus-Effekt bekannt.
Der Proteus-Effekt und seine Auswirkungen auf die Gesellschaft
Jesse Fox, ebenfalls von der Stanford University, warf bereits 2010 andere Fragen auf: Sie testete die Veränderung der Wahrnehmung von Frauen auf Grundlage unterschiedlicher Reize in der digitalen Welt und fand heraus, dass freizügig gekleidete, unterwürfig auftretende Frauen-Charaktere eine höhere „rape myth acceptance“ (der Ansicht, dass das Outfit o.Ä. eine Vergewaltigung rechtfertigen würde) der Probanden, im Vergleich zu konservativ gekleideten, dominant auftretenden Frauen-Charakteren, zur Folge hatte. Sie fragte daraufhin nach Spielen wie der GTA-Reihe, in der Frauen häufig (auch dem neuesten Teil GTA 5) alte Geschlechterbilder reproduzierend auftauchen und somit diese in dem Spieler verfestigen, der sich – dank dem Proteus-Effekt – mit der Handlung und Einstellung seines gespielten Charakters identifiziert. Dies ist aber noch lange kein Argument für die „Killerspiel-Debatte“.
In einer anderen Studie erforschte sie allerdings auch positive Aspekte des Effekts, so konnte sie nachweisen, dass Menschen, die einen Avatar mit ihrem eigenen Gesicht beim Sport beobachteten, am Tag darauf signifikant mehr motiviert waren, selbst Sport zu treiben. Aufgrund dieser und weiterer Versuche schlussfolgerte Fox, dass personalisierte Avatare benutzt werden könnten, um gesundes Verhalten zu fördern – oder sogar, um bspw. Menschen mit Essstörungen an ein gesundes Körperbild heranzuführen. Die Möglichkeiten erscheinen vielfältig. Eine 2018 erschienene Studie, in der Teilnehmer über acht Wochen hinweg in der Virtual Reality auf der Straße lebten, führte zu einem vergleichbaren Ergebnis. Die Probanden zeigten danach eine positivere und nachhaltigere Haltung gegenüber Obdachlosen.
Im Film „Ready Player One“ skizziert Steven Spielberg eine dystopische Welt, in der der Avatar schon längst Identifikationsfigur der Menschen geworden ist. Passend dazu werden Gamer oder aber auch z. B. Online-Pokerspieler bereits heute mit ihrem Online-Namen angesprochen. Der echte Name tritt in den Hintergrund und ist den meisten Fans nicht ansatzweise so präsent. Die Verschmelzung von Online-Persönlichkeit und realer Persönlichkeit ist also bereits in vollem Gange.
Autor: Ruben Wehr
Ruben studierte Wirtschaftspsychologie & Digitale Medien in Lüneburg. Er interessiert sich besonders für Visionen der Zukunft, die das Leben aller besser machen können. Dabei kann es ihm manchmal nicht revolutionär genug sein. Die gängigen Praxen zu verändern und mit frischem Wind zu durchbrechen ist etwas, das ihn besonders inspiriert.
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