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Leonie Matt
Transformation & Service Design
06.01.2023 | Lesezeit: 6 Minuten

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Zyklusorientiertes Arbeiten

Dienstagmorgen, der Laptop seit einigen Minuten aufgeklappt. Während ich mich kaffeekochend auf den bevorstehenden Meetingmarathon vorbereite, in meinem Mail-Postfach: die ersten Nachrichten. Eine sich füllende To-Do Liste, weitere Terminanfragen und plötzlich ist da ein dumpfes Ziehen im Unterleib. „Auch das noch“, denke ich. So schnell meine Blutung einsetzt, so genervt bin ich von ihr. Ich weiß, dass ich jetzt entweder Ruhe auf dem Sofa bräuchte oder demnächst eine Schmerztablette. Eigentlich paradox: In meinem Arbeitsalltag beschäftigen mich täglich Bedürfnisse von Menschen. Und im gleichen Atemzug übergehe ich einfach meine eigenen.

Themen: Regeneration | Verhaltensänderung | Kulturwandel | Gesellschaft

 

GESELLSCHAFTLICHE
STIGMATISIERUNG

Dass ich mit der Entscheidung, meine Erwerbsarbeit über meine eigenen Ruhebedürfnisse zu priorisieren, nicht allein bin, ist bewiesen: In einer Studie über Menstruation und Menopause von 2019 aus den Niederlanden gaben 81% der Befragten an, zur Arbeit zu gehen, auch, wenn sie sich unwohl fühlten. Weiter zeigt die Studie, dass es im Schnitt zu einem Verlust an Produktivität komme, der bei durchschnittlich neun Tagen im Jahr liegt.

Einen fortschrittlichen Weg schlägt etwa Spanien ein: So beschloss Spanien 2022 ein Gesetz, das Frauen bei Menstruationsproblemen bezahlte Urlaubstage gewährt.

NATÜRLICHES WECHSELSPIEL

VON AKTIVITÄT UND REGENERATION

Menschen haben ein natürliches Pausenbedürfnis – die Akzeptanz und der Erhalt der Vielfalt von Zeitqualitäten und Zeitmustern, wie die Natur sie anbietet, ist für eine vorsorgende und nachhaltige Art des Lebens und Wirtschaftens notwendig. Dies passt jedoch häufig nicht zu der gegenwärtigen Art und Weise, wie gelebt und gearbeitet wird. Alles Organische organisiert sich nach der Abwechslung aus Phasen der Aktivität, in denen Ressourcen benötigt und verbraucht werden und Phasen der Regeneration, in denen sich jene wieder erneuern können. Was für Landwirte und Erwerbstätige, die direkt mit der Natur zusammenarbeiten, selbstverständlich ist, gilt auch für Erwerbstätige am Schreibtisch. Unser biologischer Rhythmus wird von Jahreszeiten beeinflusst. Nicht nur die Stimmung ist davon beeinflusst, Forscher*innen konnten zudem herausfinden, dass auch das Gehirn saisonalen Schwankungen unterliegt: Aktivitätsmuster, die mit dem Arbeitsgedächtnis in Verbindung zu bringen sind, erreichen im Herbst ihren Höhepunkt, während die gleichen Bereiche bei der gleichen Aufgabe im Frühling weniger Aktivität zeigen: Das deutet darauf hin, dass das Gehirn mehr Ressourcen investieren muss, um eine Aufgabe lösen zu können und somit der Aufwand für kognitive Leistungen je nach Jahreszeit divergiert.

UNSERE INNEREN RHYTHMEN

Wie viel Regeneration räumen wir uns selbst in unserem täglichen Arbeitsalltag ein? Die Wissenschaft der Chronobiologie macht dieses Wechselspiel konkret. Sie untersucht die zeitliche Organisation in Physiologie und das damit verbundene Verhalten von Organismen. In dieser Organisation spielen Rhythmen, häufig von endogenen (inneren) biologischen Uhrsystemen gesteuert, eine zentrale Rolle. Umgangssprachlich bekannt als „Innere Uhr“ wird beispielsweise der Tag-Nacht-Zyklus des Menschen nicht nur von äußeren Einflüssen bestimmt, sondern ebenfalls durch genetisch manifestierte Zeitgeber, die sich in unseren Zellen befinden.

 

DISKREPANZ DER BIOLOGISCHEN UND WIRTSCHAFTLICHEN BEDÜRFNISSE

Der modernistische Lebensstil weicht immer weiter von den Rhythmen der biologischen Uhr ab. Seit der Industrialisierung gibt vornehmlich die Erwerbsarbeit den Takt an, nicht mehr der Schlaf oder andere biologische Rhythmen. Mich beschäftigt die Frage, wie natürliche Rhythmen einen Gegenentwurf zum häufig linearen, produktivitätsorientierten Arbeitsparadigma darstellen können. Dabei interessiere ich mich insbesondere für den menstruellen Zyklus, der aus einem Wechselspiel aus Produktion und Regeneration besteht.

"Der modernistische Lebensstil weicht immer weiter
von den Rhythmen der biologischen Uhr ab."

 

 

DIE PHASEN DES MENSTRUELLEN ZYKLUS

Der Menstruationszyklus lässt sich in vier Phasen einteilen. Die mit jeder Phase einhergehenden Bedürfnisse können sehr verschieden sein. Wie viele andere menstruierende Personen auch, habe ich die Erfahrung gemacht, dass jede Phase in Bezug auf Erwerbsarbeit verschiedene Vorteile mit sich bringt und ich stellte die These auf, dass wir insgesamt nachhaltiger arbeiten, würden wir uns mehr an den Bedürfnissen der einzelnen Phasen orientieren.

Die Auseinandersetzung mit dem menstruellen Zyklus ist nicht nur auf individueller Ebene ein spannendes Tool. Auch zeigt sich im Hinblick auf den Erwerbsarbeitskontext, dass sich zwischen gesellschaftlich erwünschten und ökonomisch weniger anerkannten Phasen unterscheiden lässt: Den äußeren Erwartungen entsprechen die ersten beiden Phasen: Hier sind menstruierende Personen leistungsstark, produktiv, sozial aktiv und durchsetzungsstark. Dem gegenüber sind die letzteren Phasen im primär linear gedachten Arbeitskontext vermeintlich wenig hilfreich und werden häufig übergangen. Werden jedoch eigene körperliche Bedürfnisse regelmäßig missachtet, wirkt sich dies negativ auf die individuelle Leistungsfähigkeit aus.

 

In der Phase des Heranreifens der Eizelle verspüren Menstruierende jede Menge Energie und Entdeckergeist. Der Zeitraum geht mit einem guten Körpergefühl einher. Ein gesteigertes Selbstbewusstsein, Motivation und Tatendrang sind die Folge. Beruflich gesehen sind Menstruierende hier besonders produktiv und können sich leichter neuen Themen widmen. Die Phase des Eisprungs geht mit einem gesteigerten Gefühl der Attraktivität einher. Beruflich ist dies die Phase der Diplomatie und des Netzwerkens. Hier finden im besten Fall Gehaltsverhandlungen, Präsentationen, Sales- und Outreach-Aktivitäten statt. In der dritten Phase bereitet der Körper sich auf eine mögliche Schwangerschaft vor. Dies tritt mit einem Bedürfnis nach Rückzug und Selbstfürsorge einher. Beruflich kann die aufgebaute Schaffenskraft und Energie genutzt werden, um Visionen zu erarbeiten, sich auf kreative Weise eigenen Projekten zu widmen und Aufgaben abzuschließen. Die Phase der Blutung ist eine Zeit der Ruhe und Regeneration. Im Arbeitskontext eignet sich dieser Zeitpunkt zur Innenschau und Reflexion. Menstruierende Personen können mit Weitblick auf Herausforderungen oder grundlegende Situationen blicken oder Input und Erarbeitetes aufarbeiten.

 

 

NATÜRLICHE ZYKLEN ALS ORIENTIERUNGSHILFE

HIN ZU EINEM REGENERATIVEN UMGANG UNSERER ARBEITSZEIT

Auf individueller Ebene kann sich jede Person – egal ob menstruierend oder nicht – die Frage stellen: Welchen natürlichen Zyklen und körperlichen Bedürfnissen unterliege ich? Inwieweit nehmen sie Einfluss auf die eigene Erwerbsarbeit? Ein erster Schritt kann dabei sein, ein Zyklus- bzw. Bedürfnistagebuch zu schreiben. Wem der Menstruationszyklus dabei zu abstrakt ist, kann sich an anderen zeitlichen Rhythmen, wie etwa dem Tagesrhythmus (kurzfristig) oder den Jahreszeiten (mittelfristig) orientieren.

Auf systemischer bzw. organisationaler Ebene finde ich folgende Fragen diskussionswürdig: Wie viele Freiräume bietet die Organisation, individuelle Bedürfnisse während der Arbeit zu berücksichtigen? Inwieweit spielt das Wechselspiel aus Produktion und Regeneration in der Unternehmenskultur eine Rolle? Organisationen müssen veraltete Strukturen umgestalten, die in den meisten Fällen noch immer auf ausschließlich männliche bzw. nicht-menstruierende Mitarbeitende ausgelegt sind: Eine britische Studie zeigte 2017, dass gerade einmal sieben Prozent der Arbeitgeber*innen sich aktiv mit Menstruation am Arbeitsplatz beschäftigen. Dabei ist die Voraussetzung für inklusive und diverse Teams die Anerkennung, dass Raum für unterschiedliche Bedürfnisse da sein darf und muss.

Aber auch in Bezug auf den Klimawandel und eine daran angepasste neue Form des Wirtschaftens kann der menstruelle Zyklus ein Guide sein: Er hilft, ein Bewusstsein für natürliche, zyklische Prozesse zu schaffen und den wiederkehrenden Wechsel von Aktivität und Regeneration zu erleben. Die Natur lebt uns vor: Wenn wir zukunftsorientiert und langfristig agieren möchten, müssen wir die Phasen der Regeneration und damit einhergehende Bedürfnisse anerkennen.

DISCLAIMER

Natürlich ist es insbesondere in prekären Arbeitsverhältnissen schwieriger, zyklusorientiert zu arbeiten. Auch für körperlich schwer arbeitende Personen ist das Thema zwar relevant, wobei die Voraussetzungen sich unterscheiden. Aus diesem Grund richtet sich der Text im ersten Schritt an Arbeitgeber*innen, deren Mitarbeitende die Möglichkeit haben, sich ihre Zeit freier einteilen zu können. Hier sollte eine Vorreiter*innenrolle eingenommen werden, indem Freiräume für bedürfnisorientiertes genutzt und eine Arbeitskultur der Regeneration etabliert wird.

Bildreferenzen: Illustrationen by ©Leonie Matt

Mehr zum Thema in dem Artikel "Von Körperscham zu Period Pride. Eine visuelle Analyse" von Jennifer Jordan & Karolina Braun und "Zwischen Tabu und Chance: Die Kultur der Scham" von Europa Bendig.

 

Autorin: Leonie Matt

Leonie Matt ist als Service Designerin und Transformationsforscherin bei PwC Experience Consulting tätig. Mit einem planet-centric Designansatz arbeitet sie an Produkt- und Serviceinnovationen, die zukunftsfähig sind. Besonders interessiert sie sich regenerativere Formen des Wirtschaftens und Arbeitens.

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